Der Speziesismus und seine Verflochtenheit mit herrschenden Ideologien -Anmerkungen und Verdächtigungen- von Susann Witt-Stahl
Seit Jahrhunderten bemühen sich Menschen, Ethikmodelle zu entwickeln, die Tieren einen ausreichenden Schutz vor willkürlicher und oppressiver Behandlung bieten. Abgesehen davon, daß weder die praktische Philosophie noch politische Weltanschauungen, ohne sich metaphysischer Annahmen zu bedienen, Letztbegründungen zur Durchsetzung eines Status für Tiere als Rechtssubjekte innerhalb und außerhalb der menschlichen Gesellschaft anführen können, so gibt es doch genügend schlüssige ethische oder politische Konzepte, die die Rechtlosigkeit der Tiere beenden könnten. Zu nennen sind in diesem Zusammenhang Henry S. Salt oder Leonard Nelson, die durch die Kritik des Kantianismus Ethikkonzepte entwarfen, die sich auf Gerechtigkeitsprinzipien sowie die durch die Evolutionstheorie belegte Verwandtschaft der empfindungsfähigen Lebewesen und ihre ursprüngliche Wesensgleichheit der intellektuellen Ausstattung stützen. Albert Schweitzer ist die Zurückweisung des rigorosen Anthropozentrismus und des cartesischen Maschinendenkens zugunsten eines Plädoyers für das empathische Erleben der Welt in gegenseitiger Achtung und Respekt zu verdanken. Ursula Wolf leitete eine pathozentrische, liberale Moraltheorie "generalisierten Mitleids" aus ihrer kritischen Betrachtung des Utilitarismus, der schopenhauerischen Mitleidsmoral und der Tugendmoral ab etc. etc. So überzeugend diese Ethikmodelle argumentativ auch sind, sie bleiben unerhört; sie werden von unserer Gesellschaft konsequent übergangen. Es liegt auf der Hand, warum das der Fall ist. Um es mit Leonard Nelsons Worten zu sagen: "Die Welt wird sich nie nach dem richten, was in den Büchern steht, und wenn es tausendmal wissenschaftlich begründet ist. Nicht die Theorie bestimmt die Praxis, sondern die Macht der für oder gegen eine Sache sich einsetzenden Interessen." Das Dilemma der Rechtlosigkeit der Tiere geht aber noch weiter, denn mythischer Aberglaube, unkontrollierte anthropomorphistische Projektionen und haltlose Vorurteile gegen Tiere dominieren ebenso die philosophischen, politischen und naturwissenschaftlichen Publikationen wie die herrschende Alltagsmoral. Wie der Philosoph Jean Claude Wolf in seiner Abhandlung "Tierethik. Neue Perspektiven für Menschen und Tiere" herausarbeitete, beherrschen noch heute nicht empirische Kenntnisse von Tieren, sondern "Tierfabeln" oder "wirklichkeitsfremde, idyllische oder dämonisierende Tier-Stereotypen" die Köpfe der Menschen. Tiere werden, außer von wenigen ZoologInnen und EthologInnen, nicht als Wesen erkannt, die ein komplexes Gefühls- und Sozialleben führen, sondern als " Spiegel und Allegorie für menschliche Tugenden und Laster" benutzt (s. WOLF, 12ff.). Tiere werden, so Wolf, in ein "metaphysisches Kuriositätenkabinett" abgeschoben. Das seit Beginn der Neuzeit allgemein akzeptierte universalistische Gleichheitsprinzip wird nicht auf Tiere angewendet, obwohl Menschen und Tiere in wesentlichen Belangen gleich starke vitale Interessen zum Ausdruck bringen. Die wichtigsten moralpsychologischen Antriebsfedern, das Prinzip der Gerechtigkeit und des Mitleids, setzen sich im Umgang mit Tieren nicht durch. Wissenschaftliche Erkenntnisse und Ethikkonzepte können nur dann eine realistische Möglichkeit bieten, Tieren zu dem Recht auf Leben und Unversehrtheit zu verhelfen, wenn der Speziesismus, der unser Denken und Urteilen über Tiere leitet, in all seinen Versionen enthüllt, analysiert und überwunden wird. Die "Bastionen des Speziesismus müssen frontal angegriffen" und moralische Prinzipien "speziesneutral" angewendet werden (s. ebd., 20). Speziesismus bezeichnet den gesamten Komplex von Vorurteilen gegenüber Tieren; er meint den menschlichen Chauvinismus, den hemmungslosen Artegoismus, die Gewaltideologie, die Tiere der Verdinglichung, Verachtung und grenzenlosen Ausbeutung ausliefern. Wie Wolf treffend bemerkte, sind speziesistische Vorurteile gegen Tiere wiederum eng mit tradierten tief verwurzelten wissenschaftlichen, religiösen und politischen Denkmodellen verknüpft: Der Behaviorismus, der biblische Kreationismus und vor allem der überaus populäre Sozialdarwinismus haben die evolutionäre speziesübergreifende Kontinuität des Bewußtseins und der Leidensfähigkeit systematisch geleugnet oder als moralisch irrelevant abgetan. Sie haben reaktionär-autoritäre Ideologien begünstigt, die den Reduktionismus des Wertes einzelner Lebewesen und die Ableitung von Hierarchiekonstrukten aus pseudowissenschaftlichen Rasse-, Geschlechter- und Artmerkmalen betreiben. Gemeinsam ist diesen Ideologien, daß sie die ursprüngliche Einheit von Mensch und Tier zerstören, daß sie den Überbau für kapitalistische Interessen liefern, daß sie Hilfestellung leisten für die Herabsetzung und moralische Entwertung - bishin zur Perhorreszierung - der Individuen, die als Produktivkräfte oder als Ware ökonomisch mißbrauchbar sind, so z.B. für die Gewohnheit des Fleischessens, der wohl tiefsitzendsten Wurzel des Speziesismus. Der Behaviorismus und die Anästhesierung des Gewissens Der Behaviorismus (nach dem englischen behaviour = Verhalten) ist eine Richtung der Psychologie, die Anfang des 20. Jahrhunderts von J.B. Watson begründet wurde. Der Behaviorismus versteht sich als eine streng an den Naturwissenschaften orientierte Psychologie, die sich auf empirisch beobachtbare, physikalisch quantifizierbare Verhaltensmuster beschränkt. So wird Verhalten als Ergebnis eines nach dem Reiz-Reaktions-Schema verstandenen Lernprozesses aufgefaßt, ohne es innerseelisch verstehen zu wollen. Das Bewußtsein, das nur durch Introspektion zugänglich ist, wird willkürlich als wissenschaftlich nicht verifizierbar ausgeblendet. Der Behaviorismus betrieb die Ablösung der Beobachtung freilebender Tiere durch das Laborexperiment. Die so erzeugte künstliche Vereinfachung der empirischen Randbedingungen führt auf fatale Weise zu reduzierten und verfälschten Erkenntnissen über die Tiere, denn ihr Verhalten wird in der unnatürlichen Umgebung unter enormer Streßbelastung untersucht. Der Behaviorismus propagiert wissenschaftliche Wertfreiheit. Bei genauerer Betrachtung stellt er sich nicht nur als wertend, sondern dadurch, daß er sehr wohl ethische Implikationen enthält, aber seine Werturteile verschleiert, als Wissenschaftsideologie heraus, die über Jahrzehnte als wissenschaftliche Orthodoxie herrschte. "Die behavioristische Ideologie, die auch nicht vor der Leugnung oder Bagatellisierung menschlichen Bewußtseins haltmacht, schlägt aber auch dem Evolutionismus ins Gesicht, der die kontinuierliche Entwicklung der Arten und damit auch den fließenden Übergang zwischen tierischem und menschlichem Bewußtsein sowie die Rolle der Vererbung betont. Der Behaviorismus bewegt sich nicht im evolutionären Begriffsrahmen, ignoriert Prägung und Vererbung und kapriziert sich auf das Lernverhalten einiger ausgewählter Tierarten - die berühmten Versuche an Ratten - ohne die Rolle von Vererbung, Gefühlsreaktionen und Wahrnehmung zu beachten" (WOLF, 47). Der behavioristische Reduktionismus diskreditiert empfindungsfähige Lebewesen schon allein durch seine Terminologie: Die Schreie der gequälten Labortiere werden als "Vokalisierung" der "Stimulus-Reaktion", des Schmerzes bezeichnet, den die Experimentatoren ihren Opfern zugefügen. Der Behaviorismus ist ein Paradebeispiel für die Funktionalisierung der Wissenschaft als Herrschafts- und Verfügungswissen. Er gewann sicher nicht zufällig an Einfluß im Zeitalter des Technologiefetischismus, am Vorabend zweier Weltkriege, die gigantische Vernichtungstechnologieschübe forderten und ein Selbstverständnis der Menschheit konstruierten, das ungehemmtes grenzenloses Wollen und Können miteinander verschmelzen lassen sollte. Hinderlich war das skrupulöse Gewissen, der Respekt vor den Lebewesen und ihre Individualität, ihre Verletzlichkeit und Leidensfähigkeit. Der Behaviorismus erweist sich sowohl durch seine begriffliche Neutralisierung des Leidens als auch durch die hermetische Abgrenzung von Natur und Kultur, Tier und Mensch gegeneinander als Methodologie der Anästhesierung des Gewissens (vgl. ebd., 48). Der Sozialdarwinismus und das Leben als Kriegsschauplatz Der Sozialdarwinismus ist wohl die krasseste ideologische Form des naturalistischen Fehlschlusses, also der Ableitung von Sollensätzen aus Seinssätzen. Als einer der bedeutendsten Wegbereiter des Sozialdarwinismus gilt der Zoologe Ernst Haeckel (1834-1919). Mit seiner "biologischen Philosophie" erhob er die biologische Wissenschaft zum Maßstab der Moral. Diese Biologisierung der Ethik und Politik führte zur Entwertung des Individuums und untermauerte tradierte Subordinationsverhältnisse (Mann und Frau, Herr und Sklave, Mensch und Tier) auf Basis der bedingungslosen Bejahung des "Rechts des Stärkeren". Die Wahrnehmung der Natur verkam zu einer Betrachtung des Verhältnisses der Lebewesen zueinander als "bellum omnium contra omnes", als ständigen Überlebenskampf, Natur als Kriegsschauplatz des Fressens und Gefressenwerdens. Von der mißbräuchlichen Projektion der Darwinschen Evolutionstheorie auf die menschliche Gesellschaft, der fatalen ideologischen Interpretation des "survival of the fittest" im "struggle for life" als aristokratische Auslese der "besten", "stärksten" Individuen, Rassen oder Arten, waren als erste die Tiere betroffen. 1899 präsentierte Rittmeister Stephanitz der deutschen Öffentlichkeit sein "Geschöpf", den Deutschen Schäferhund. Schon hier waren rassistische und speziesistische Implikationen untrennbar miteinander verbunden: Stephanitz in seinem Buch "Der Deutsche Schäferhund in Wort und Bild": "Führer und Vorbilder kommen aus gefestigter sorgfältiger Aufzucht her, nicht aus der Hefe [...] Wie aber Vermischungen mit einer artfremden Rasse [...] ein körperlich, geistig und sittlich hochstehendes Volk zugrunde richten können, lehrt die Geschichte immer wieder von neuem." Stephanitz gab genaue Anleitung, wie mit den "entarteten" und "minderwertigen" Tieren umzugehen sei: "Der zum Tode Geweihten entledigt man sich am einfachsten, indem man sie auf einen Steinboden oder wider die Wand wirft." Selektion durch Mord, ein ganz "natürlicher Vorgang", denn "nur Auslese bürgt für eine reinrassige Elite - beim Hund genauso wie beim Menschen." Der Sozialdarwinismus war auch für die Nationalsozialisten eine brauchbare Legitimation zur Vernichtung aller "Schwachen", "Kranken", "Degenerierten", "Entarteten" unter den Menschen. Durch Zuchtwahl wollten sie einen Ideal-Staat nach platonischem Muster schaffen. Max Horkheimer beschrieb den Faschismus in seinem Aufsatz "Die Revolte der Natur" von 1947 als "satanische Synthese von Vernunft und Natur". Der Sozialdarwinismus hat die versöhnende Demut des Darwinismus gegenüber der Natur derart transformiert, daß die Vernunft zum instrumentalen Organ der Natur erniedrigt wurde: "Die Gleichsetzung von Vernunft und Natur, wodurch die Vernunft erniedrigt und die rohe Natur erhöht wird, ist ein typischer Trugschluß des Zeitalters der Rationalisierung. Die instrumentelle subjektive Vernunft preist entweder die Natur als pure Vitalität oder schätzt sie gering als brutale Gewalt" (HORKHEIMER, 122). Gewalt wurde als unveränderliche Naturkonstante ästhetisiert. So kommt die Natur erst im Kampf wieder zu ihrem Recht; erst im Kampf herrschen ihre "ewigen Gesetze". Der Krieg wurde als Befreiung von den Fesseln der Vernunft, der Moral und ihren kategorischen Imperativen begriffen, als orgiastisches Fest der Sinne, als "einzige Hygiene der Welt" (I). Horkheimer führte die magische Wirkung Hitlers auf die Massen und die Auslösung kriegerischer Impulse in ihnen darauf zurück, daß Hitler immer wieder suggerierte - z.B. durch das Propagieren des Eroberungskrieges als ultimativen "Rassenkampf" ums Dasein -, er habe die Macht, den Bann, unter dem die unterdrückte Natur steht, von ihr zu nehmen. Aber: "Die Lehren, die die Natur oder den Primitivismus auf Kosten des Geistes erhöhen, begünstigen die Versöhnung mit der Natur nicht; im Gegenteil, sie drücken emphatisch Kälte und Blindheit gegenüber der Natur aus. Immer wenn der Mensch vorsätzlich Natur zu seinem Prinzip macht, regrediert er auf primitive Triebe" (ebd., 123). Diese Regression gipfelte in der Barbarei erbarmungsloser Selbsterhaltung und des Krieges. In der Ethik und Politik nach 1945 wird die direkte Ableitung von moralischen Imperativen aus vermeintlichen Naturgesetzen weitgehend zurückgewiesen. In der Alltagsmoral der meisten Menschen leben Relikte des Sozialdarwinismus jedoch weiter. So werden an bundesdeutschen Stammtischen - und nicht nur dort - Naturkatastrophen in Indien, die Tausenden von Menschen das Leben kosten, als "natürliches" Regulativum gegen die "Überbevölkerung" bejubelt, der AIDS-Virus zynisch als "Rache der Natur" an der "Degeneration" und "Entartung" des Menschengeschlechts erklärt. Und die Tiere? Hier herrscht Einigkeit: In dieser Ableitung von Normen aus der Natur als Schauplatz akzeptierten unendlichen Leidens, in der Propagierung eines Dualismus von wertem menschlichen und unwertem tierischen Leben findet ein gesellschaftlicher Schulterschluß von Faschisten, Konservativen, Links-Liberalen bishin zur radikalen Linken statt. Die Unterdrückung der Tiere gilt als unantastbares Naturgesetz. Die reaktionären Züchterverbände produzieren weiterhin "reinrassige" Tiere für den Verbrauch der Menschen. Das alltägliche Abschlachten der Tiere in den Todesfabriken wird als vollkommen "natürlicher Kreislauf" des Fressens und Gefressenwerdens gewertet. Der moralische Protest gegen diese künstlich als absolut gesetzte, blutige Ordnung der Dinge wird als "sentimental" denunziert. In alt bewährter Herrenmenschenmanier fordern Marxisten die Verwendung von Tieren, "dieser minderwertigen Geschöpfe" für die Krebsforschung, da "etwas Sinnvolleres" für sie nicht vorstellbar sei. (II) Mit Parolen wie "Gegen Tauben hilft nur noch Gift" rufen Politiker zur Ausmerzung der "Schädlinge" auf.(III) Andere verhüllen ihr sozaldarwinistisches Denken durch Modebegriffe wie "Ökoethik": Die Natur kenne (auch) keine moralischen Skrupel, so ist in der bürgerlichen Wochenzeitung "Die Zeit" zu lesen, und der Mensch erzeuge schließlich nur einen Bruchteil des alltäglichen Massensterbens, das die Tiere in der Natur erdulden müßten. Der Autor, der an anderer Stelle vor dem "Vulgärdarwinismus" des "Rechts des Stärkeren" warnt, vertritt die Auffassung, daß Rehe aus "ökologischen Gründen" durch Menschenhand "vermindert" werden müssen, und Schlachthöfe nur ein Teil des "Dilemmas des Tötens, um zu überleben" seien. Für die unendlichen Leiden der Tiere unter dem Joch der Menschen hält der Autor sogar tröstende Worte bereit: "Auch Schmerzen sind aus biologischer Sicht eher ein notwendiges Hilfsmittel als ein moralisches Übel, das es abzuschaffen gilt." (IV) Die verschiedenen Beispiele von Vernichtungsrhetorik zeigen deutlich die Bandbreite der Ideologie aristokratischer Ausleseprinzipien und unverrückbarer Spezieshierarchien, vor der übrigens Darwin einst so eindringlich und vergeblich gewarnt hatte. Der biblische Kreationismus und die Eitelkeit der Gottesebenbildlichkeit Wie menschliche Herrschaftsverhältnisse ideologisch durch pseudowissenschaftliche Übertragungen scheinbar logisch aus der Evolutionstheorie hergeleitet werden und moralisch gerechtfertigt werden, so wird die Evolutionstheorie durch die metaphysische Annahme der Gottesebenbildlichkeit des Menschen schlichtweg geleugnet oder relativiert. Der mythische Schöpfungsbericht hat einen kategorialen Unterschied zwischen Mensch und Tier festgeschrieben und widerspricht der Evolutionstheorie Darwins, die besagt, daß der Begriff des Menschen von Tieren erschaffen ist (vgl. WOLF, 26). Dagegen wird in der Genesis (2, 19-20) der Akt des Benennens und damit des Einteilens in Klassen oder Spezieshierachien vollzogen. Dort ist zu lesen: "Jahwe Gott bildete noch aus dem Erdboden alle Tiere des Feldes und alle Vögel des Himmels, und er führte sie zum Menschen, um zu sehen, wie er sie benennen würde: so, wie der Mensch sie benennen würde, sollte ihr Name sein. Da gab der Mensch allem Vieh und den Vögeln des Himmels und allem Wild des Feldes einen Namen." Bereits mit dem fatalen Soll-Satz des "Sich-die-Erde-Untertan-Machens" (Genesis 1, 28) ist die Herrschaft des Menschen über die Tiere eine vollendete Tatsache. Die "Trennung zwischen den Wesen bekam nun, nach all den wortreichen physischen Argumenten der Philosophie, einen metaphysischen Begriff, und er wurde den Tieren endgültig verderblich -: nicht nur die Vernunft fehlte ihnen, Voraussetzung u.a. dafür, in der Philosophie mitzureden, - sie hatten auch den "Logos" nicht, den aristotelischen so wenig wie den johanneischen, die theologische Summe [...], und damit entbehrten sie, befand nun der heilige Thomas von Aquin, die "unsterbliche Seele"" (WOLLSCHLÄGER, 6). Der Schöpfungsbericht erwähnt keine Beseelung der Tiere oder ein Anhauchen mit Geist (Genesis 2, 8). (V) Die normative Annahme, daß alle Menschen als Ebenbild Gottes mit einer unsterblichen Seele versehen sind, begründet das christliche Gleichheitsprinzip und damit das Homizidverbot (mit Ausnahme der Notwehr, Todesstrafe und des "gerechten" Krieges). Durch die Subordination der Tiere sind diese vom Tötungsverbot ausgenommen. Im Gegensatz zu den Menschen wird ihnen der Status der Einmaligkeit, das Recht auf Unverletzbarkeit des Individuums verweigert; sie sind austauschbar und dürfen getötet werden. Die Anerkennung der Individualität impliziert das Vorhandensein von Interessen, d.h. die Individuen sind Selbstzwecke und nicht bloß Mittel zum Zweck anderer: Sie sichert den Lebewesen das Recht auf ein freies und würdevolles Dasein. Dieses Prinzip verbindet das Christentum und den Kantianismus (VI). Einig sind sie sich ebenso in der speziesistischen Anschauung der Tiere als verfügbare Mittel. Auch wenn moderne ChristInnen immer wieder darauf verweisen, daß die buchstäbliche Auslegung der Schöpfungserzählungen ausschließlich dem fundamentalistischen Christentum zuzuordnen ist und die aufgeklärte Schöpfungsberichtsrezeption eine metaphorische Auslegung verfolgt, so kann dennoch nicht bestritten werden, daß die biblischen Metaphern auf Behauptungssätzen basieren, die einen absoluten Wahrheitsanspruch postulieren. Wolf: "Manche Leser neigen kurzerhand dazu, den Schöpfungs"bericht" nur sinnbildlich, als lehrreiche und symbolträchtige Erzählung zu verstehen - dann ist er in der Tat mit der Evolutionstheorie vereinbar. Doch ist dann nicht alles, was in der Bibel steht, "sinnbildlich" zu verstehen? Gehört der Satz "Gott hat die Welt geschaffen" etwa nicht zu den zentralen und buchstäblich wahren Kernsätzen des Theismus?" (WOLF, 32). Derartige Sätze behaupten weiterhin teleologische Naturdeutungen, an denen die Evolutionstheorie durch die Verbannung des personalen Schöpfers aus der Naturgeschichte gerüttelt hatte. Sicher, die Bibel enthält auch zahllose Passagen, die Gemeinsamkeiten von Mensch und Tier betonen. Doch, wie es den Tieren immer zugemutet wird, besteht ihre Gemeinschaft mit den Menschen vorwiegend im Mitleidenmüssen für deren Vergehen. Gott, der "Gartenbesitzer hatte eine strenge Benutzungsordnung erlassen und die, wiewohl nur vegetarische, Ernährung durch das Verbot einer bestimmten Obstsorte eingeschränkt, das Menschenpaar übertrat's und der ganze Tiergarten, einheitlich mitgefangen, verfiel der Bestrafung. Er wurde aus der schönen Symbiose vertrieben, und die Himmelsgeschichte war zu Ende, die Hölle begann" (WOLLSCHLÄGER, 2). Viele christliche TierschützerInnen versuchen nachzuweisen, daß Jesus das Lebensrecht der Tiere geachtet und sich fleischlos ernährt hatte. In der Tat: in Matthäus 25-27 z.B. beschimpft Jesus die Schriftgelehrten und Pharisäer. Ihre Schüsseln seien "voll Raubes und Fraßes", sie glichen "übertünchten Gräbern, welche auswendig hübsch scheinen, aber inwendig sind sie voller Totengebeine". Fragt sich, was Jesus eigentlich störte? War es der Mord an den Tieren oder doch nur der Mangel an christlicher Demut und der unbotmäßige Genuß weltlicher Sinnenfreuden (heute würde man es Dekadenz nennen)? Jesus ein Tierfreund? Wohl kaum. Auch er opferte Tiere, um die Schuldverflochtenheit der Menschen zu kompensieren. In Matthäus 8, 28-32 heilt Jesus die Besessenen von Gerasa, indem er die Dämonen in eine Schweineherde fahren läßt und "siehe, die ganze Herde Säue stürzte sich von dem Abhang ins Meer und ersoff im Wasser". Das eigentlich Interessante an all diesen Bibelgeschichten ist hier die Schicksalsgemeinschaft von Mensch und Tier in beider Fähigkeit leiden zu können. Das speziesistische Moment liegt in der ungerechten Konsequenz, daß Tiere zwar, wie ihre menschlichen Gefährten, bestraft oder geopfert werden, ihnen aber die Berücksichtigung ihres vitalen Interesses, nämlich am Leben zu sein als anerkannt empfindungsfähige Geschöpfe Gottes versagt bleibt. Wie Jean Claude Wolf anmerkt, ist dieses hierarchische Denken, zumindest den Menschen des abendländischen Kulturkreises, "in Fleisch und Blut" übergegangen und das über die Grenzen des Christentums hinaus. Genau genommen enthält der Satz "Und weil der Mensch ein Mensch ist..." (VII) eine ähnlich metaphysische Setzung wie die Behauptung der Gottesebenbildlichkeit. In der marxistischen Monatszeitschrift "konkret" (11/96) weist Oliver Tolmein die Forderung nach Rechten für Tiere mit der Begründung zurück, daß nur den Menschen grundlegende Rechte zuzuerkennen seien, und zwar "weil sie Menschen sind". Dabei führt er die "Einheit der Menschheit" als besonderes Qualitätsmerkmal an und nennt weiterhin die "Bewußtseins-Kompetenz" sowie "die selbstgeschaffenen und entwickelten sozialen, eben nicht ‘natürlichen’ Strukturen". Abgesehen davon, daß Tiere sehr wohl über sogenannte Bewußtseins-Kompetenz verfügen und Tolmein den Schnittpunkt von Natur und Kultur - die Entwicklung der Kultur aus nichtmenschlicher Kommunikation -, also die evolutionäre Kontinuität leugnet, bedient er sich willkürlich bestimmter Leistungskriterien, nämlich der hochentwickelten Sprach- und Vernunftsfähigkeit (auch wenn Tolmein dies sicher nicht beabsichtigt, so schließt er mit seinen Kriterien kleine Kinder und geistig Behinderte aus den Kreis der Rechtssubjekte aus) (VIII). Die Berücksichtigung der Leidensfähigkeit der Tiere - und zwar nur der Tiere - lehnt er lapidar ab: Eine Gesellschaft ohne Leiden sei reine Utopie. (IX) Literatur: HORKHEIMER WOLF WOLLSCHLÄGER Fußnoten: (I) So Filippo Tommaso Marinetti, der Faschist und Begründer des italienischen Futurismus in seinem "Ersten Futuristischen Manifest" von 1909. (II) Jürgen Elsässer in "junge Welt" (v. 22.11.1995, Nr. 267) über die Maus, das "häßliche Nagetier". In seinem Artikel "Rettet die Krebsmaus" plädiert Elsässer für die Gentechnolgie und die "Erzeugung" und Patentierung karzinogener Mäuse. Weiterhin bezeichnet er Menschen, die sich offensiv für Tierrechte einsetzen als "gemeingefährliches Gesindel", das bei der Polizei angezeigt werden muß. (III) So z.B. Politiker der "CDU" und der "Statt-Partei" in Hamburg (vgl. "Altonaer Wochenblatt" v. 7.5. 1997, Nr. 79). (IV) Michael Miersch in "Magna Charta für Fifi" ("Die Zeit" v. 3.2.1995, Nr.6). (V) In Psalm 104, 29-30 ist dagegen durchaus vom "Odem", also der Beseelung der Tiere durch den Heiligen Geist die Rede. (VI) In seiner "Grundlegung zur Metaphysik der Sitten" formulierte Immanuel Kant den "kategorischen Imperativ" oder auch "Imperativ der Sittlichkeit" folgendermaßen: "Handle so, daß du die Menschheit sowohl in deiner Person als in der Person eines jeden andern jederzeit als Zweck, niemals als Mittel brauchst." Kant räumte den Tieren einen schwächeren moralischen Status ein als den Menschen. Er setzte allerdings Tiere nicht mit Dingen gleich. Er bestritt weder die Leidensfähigkeit von Tieren - sonst hätte er auch nicht von Tierquälerei sprechen dürfen -, noch das Mitgefühl der Menschen mit ihnen; er forderte sogar, die Dienste der Tiere am Menschen zu belohnen. Andererseits sprach er auch von dem "vernunftlosen Tier", mit dem man "nach Belieben schalten und walten" dürfe. Kant knüpfte seine Moral einerseits an empirische Grundlagen, andererseits band er sie an eine überempirische Theorie, nämlich an die metaphysische Annahme, daß der Mensch der Zweck der Natur sei. (VII) Mit diesen Zeilen des "Einheitsfrontliedes" wollte Berthold Brecht elementare Menschenrechte einklagen (das Recht auf ausreichende Nahrung, Kleidung, freie Entfaltung der Persönlichkeit), die Knechtschaft der IndustriearbeiterInnen anprangern und die ProletarierInnen zum selbstorganisierten Widerstand ermutigen. Heute wird dieser Satz gerne zitiert, um Spezieshierarchien zu verteidigen, die auf tatsächlich nicht vorhandene oder moralisch irrelevante Unterschiede zwischen Mensch und Tier zurückgeführt werden. (VIII) Hier würde nur Kants schwaches Potentialitätenargument hinweghelfen. Danach sind kleine Kinder sowie geistig Behinderte trotz Vernunftsunfähigkeit Mitglieder der Spezies Mensch und damit potentiell autonom und vernunftsfähig - Ein wackeliges metaphysisches Konstrukt! In pathozentrischen Ethikmodellen genießen kleine Kinder und geistig behinderte Menschen einen weitaus besseren Schutz vor willkürlicher Behandlung, da ihre Empfindungsfähigkeit als entscheidendes moralisch berücksichtigungswürdiges Kriterium herangezogen wird und nicht Leistungsprinzipien. (IX) Der oben schon erwähnte Jürgen Elsässer bemüht statt der Gottesebenbildlichkeit den Marxismus als absolute Wahrheit, die keiner weiteren Begründung bedarf. Er behauptet einen grundsätzlichen Unterschied zwischen Mensch und Tier folgendermaßen: "Der Maßstab der marxistischen Kritik ist der Mensch, nicht die Kreatur" ("junge Welt" v. 22.11.1995, Nr.267). - Überzeugend!?
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