Theorieschub für die Tierrechtsbewegung

Besprechung des Buches: Das steinerne Herz der Unendlichkeit erweichen. Beiträge zu einer kritischen Theorie für die Befreiung der Tiere. Hrsg. von Susann Witt-Stahl. Alibri Verlag Aschaffenburg 2007. 378 Seiten. 22 EUR.

Wer hätte gedacht, dass die berühmten Frankfurter Philosophen Max Horkheimer, Theodor W. Adorno und Herbert Marcuse so viele Impulse für eine Tierbefreiungstheorie bereithalten? Der im Mai diesen Jahres erschienene Sammelband mit dem programmatischen Titel „Das steinerne Herz der Unendlichkeit erweichen“ sichtet und diskutiert diese theoretischen Bausteine der so genannten Kritischen Theorie Adornos & Co. Es handelt sich zumeist um Vorträge, die auf einem Kongress der Tierrechts-Aktion-Nord (TAN) im vergangenen Februar in Hamburg gehalten wurden.
Damit liegt nun ein Theoriewerk vor, an dem künftige philosophische und politische Diskurse über Tierrechte und Speziesismus kaum vorbei kommen dürften. Die kritische Gesellschaftstheorie der Frankfurter hat sich einmal mehr als inspirierend für eine soziale Bewegung erwiesen. Wie bereits vor einigen Jahren die feministische Gender-Theorie hat nun auch die Tierrechtstheorie den Anschluss an die Kritische Theorie geschafft. Das liegt vor allem daran, dass die Kritische Theorie keine geschlossene Denkschule ist. Vielmehr zielen ihre grundlegenden Einsichten in die Funktionsweise moderner, spätkapitalistischer Herrschaftsverhältnisse auf die Abschaffung allen Unterdrückungselends. Im Gegensatz zu vielen anderen Denkern vergaßen die Frankfurter dabei die Tiere nicht. „Dass Menschen kein Elend leiden, ja dass die Kreatur sich entfalten dürfe, ist der Zweck des allgemeinen Handelns“, schrieb Max Horkheimer in seinem Buch „Dämmerung“.
Die AutorInnen des Bandes verstehen sich als kritische TheoretikerInnen in der Gefolgschaft der Frankfurter und suchen in deren umfassendem Werk nach „Gehalten einer Utopie der Versöhnung von Mensch und Natur“ (Susann Witt-Stahl im Vorwort). Doch es ist kein bloß theoretisches Werk, das für die Bibliothek geschrieben wurde. Es wurde verfasst „in tiefer Verbundenheit mit allen Menschen, die [...] aus Solidarität mit allen quälbaren Körpern vegan leben“ (Witt-Stahl).
Das Spektrum der AutorInnen ist breit und reicht von namhaften Philosophen wie Moshe Zuckermann und Christoph Türcke bis zu den treuen Theoriearbeitern der hiesigen Tierrechtsbewegung Günther Rogausch, Melanie Bujok und Susann Witt-Stahl. Herausgekommen ist ein fulminantes Buch, das in seiner Fülle und Dichte fast erschlägt. Obwohl die behandelten Themen ebenfalls breit gefächert sind – vom Einfluss Schopenhauers auf die kritische Theorie über das Verhältnis von Marxismus und Tierbefreiung bis zu Wissenschaftskritik, dem Problem der Frau-Tier-Gleichsetzungen, Esoterikkritik und Widerstandsrecht -, bleiben doch die Bezüge zur Frankfurter Schule der rote Faden.
Insofern empfiehlt es sich, zuerst den einführenden Aufsatz von Carsten Haker zu lesen. Er macht in verständlicher Sprache vertraut mit der Geschichte und den Grundeinsichten der Frankfurter, um schließlich deren Sicht des Mensch-Tier-Verhältnisses zu fokussieren. Er versorgt den/die LeserIn mit erhellenden Zitaten Horkheimers und Adornos zum Zusammenhang von innerer und äußerer Naturbeherrschung. Gegen den Gestus der tierausbeutenden Herrenmenschen habe Adorno und Horkheimer die Verbundenheit des Menschen mit dem Tier erinnert und die Abschaffung allen Leidens gefordert.
Arndt Hoffmann sichtet in seinem gehaltvollen und scharfsinnigen Beitrag große Mengen tierrechtsrelevanter Literatur. Er spart nicht mit Kritik. Er fragt, ob sich die Tierrechtsbewegung in ihrem fixierendem Blick auf die „Faktizität des Grauens“ der gegenwärtigen Tierausbeutung nicht selbst lähmt und einen neuen Dualismus aufmacht: zwischen Mördern (Fleischesser) und Gerechten (Veganer). Mit Adorno und Ernst Bloch möchte er „eine kritische Theorie zur Befreiung der Tiere utopisch aufladen“, indem die gemeinsame Vergangenheit von Tieren und Menschen kritisch erinnert werde. Es ginge um „Glück ohne Macht“ (Adorno/Horkheimer) und einen „utopischen Begriff von Würde“, der niemanden mehr ausschließt. Adorno sei in dem Sinne ein „guter Speziesist“ gewesen, dass er einzig den Menschen dazu in der Lage sah, die „kreatürliche Utopie“ eines ewigen Friedens zwischen Mensch und Natur herbeizuführen.
Auch der Leipziger Philosoph Christoph Türcke entwirft eine Art „guten Speziesismus“. In großer Sensibilität problematisiert er in seinem Beitrag zunächst die ideologisch konstruierte Sonderstellung des Menschen. Postuliert dann aber, dass im Speziesismus auch die „Potenz zur Naturbefriedung“ liege und er gar der „humane Fürsprecher der Tierwelt“ sei. Damit wird er aber nur einen Tierschutz begründen können. Für eine wirkliche Befreiung der Tiere aus der Beherrschung durch den Menschen dürfte diese Sicht zu kurz greifen.
Dem Psychologen Colin Goldner geht es in seinem Aufsatz um die Abgrenzung der Tierrechtsbewegung von reaktionären Kult- und Esoterikgemeinschaften. In übersichtlicher Weise zeichnet er den Konflikt um das Tierrechtsengagement des Universellen Lebens (UL) nach. Er sieht in der Besetzung von Tierrechtsthemen durch das UL als Mittel zur „Anfütterung neuer Anhänger“. Den bislang oft erhobenen Antisemitismusvorwurf gegen das UL widerlegt er indes. Die Kirchen und ihre tierfeindlichen Lehren werden schließlich ebenso kritisiert wie der Buddhismus und Hinduismus.
Die Herausgeberin Susann Witt-Stahl ist selbst mit einem Text vertreten, in dem sie argumentative Vergleiche zwischen Juden- und Tiervernichtung problematisiert. Sie warnt vor einer Vereinnahmung des Holocausts, der zu seiner Enthistorisierung und Relativierung führe. Vorallem die „Holocaust-Banalisierung“ der „Holocaust auf Ihrem Teller“–Kampagne von PeTA erfährt hier noch einmal eine kritisch-theoretische Aufarbeitung. Doch auch die „schonungslose Zerschwätzung des Holocaust-Begriffs“ durch die neulinke Szene der so genannten Antideutschen wird fundiert kritisiert. Deren Ideologie, die überall Antisemitismus wittert und durch ihre eigene Fetischisierung der Juden doch ebenjenem verfällt, erscheint einmal mehr als haarsträubend und krude. Schließlich zeigt sie aber mit Adorno und Horkheimer, dass Menschen- und Tierunterdrückung ebenso wie innere und äußere Naturbeherrschung zusammenhängen. Und sie fragt vorsichtig: „Sollte auch der Kunst und Literatur das Tabu auferlegt werden, den Holocaust als Analogie, als aufrüttelnde Metapher für das selbst produzierte Grauen zu verarbeiten, dem sich die spätkapitalistische Gesellschaft immer weniger stellen will?“
Beschlossen wird der Band von Günther Rogauschs „Plädoyer für Ideologiekritik statt ‚Tierethik’“. In einer intensiven Besprechung der Tierethiker Jeremy Bentham, Peter Singer und Tom Regan weist er nach, dass diese letztlich nicht eine Befreiung der Tiere aus den Machtstrukturen bewerkstelligen können. „Die Individuen werden auf Träger von Fähigkeiten reduziert [...]. So werden nichtmenschliche Tiere allenfalls als ‚reduzierte Menschen’ dargestellt – antispeziesistisch ist das nicht.“ Problematisch sei, dass das rationalistische Moralverständnis der Tierethiker mit ihren disziplinierenden Regeln die Dimension der Gefühle ausblende. Rogausch plädiert dagegen für Empathie. Denn: „Gehorsam gegenüber Regeln schließt Empathie und somit Solidarität aus.“ Befreiung der Tiere gelänge nur durch eine fundamentale Kritik der speziesistischen Ideologie: Nichtmenschliche Tiere müssten entgegen der gängigen Nutzungsideologie als Gegenüber, als Individuen respektiert werden.
Dieses Buch führt weiter. Es ruht sich nicht aus auf einmal gefundenen Wahrheiten, sondern stellt sich den komplexen Verhältnissen mit einer komplexen Theorie. Freilich ist es ein wissenschaftliches Buch, mit vielen Fußnoten, teilweise nicht leicht zu verstehenden Abschnitten und Fachwörtern. Nun gilt es, die Erkenntnisse zu kommunizieren und mit Phantasie und Empathie in eine solidarische Praxis für die Tiere umzusetzen.      

Stefan Seidel

 

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