Freilaufender Irrsinn

Aus: literatur, Beilage der Jungen Welt vom 13.03.2008

Über die Notwendigkeit einer kritischen Theorie für die Befreiung der Tiere

Roger Behrens

Susann Witt-Stahl (Hg.): Das steinerne Herz der Unendlichkeit erweichen. Alibri Verlag, Aschaffenburg 2007, 380 Seiten, 22 Euro

Es ist bemerkenswert, in welchem Kontext welche Bilder gezeigt werden und in welcher Weise das Zeigen oder Nichtzeigen von Bildern skandalisiert wird: Im Rahmen der Initiative für das Berliner Holocaust-Mahnmal gab es 2001 Plakate, auf denen eine idyllische deutsche Bergseelandschaft zu sehen war, kontrastiert durch den Satz: »Den Holocaust hat es nie gegeben.« Gerade das offensive Nichtzeigen sollte an die Bilder der Schoa erinnern. Das folgt einer Strategie, nach der in der Auseinandersetzung mit der deutschen Vergangenheit das Zeigen von Bildern aus Konzentrations- und Vernichtungslagern weitgehend auf Schulbücher und gelegentliche Fernsehdokumentationen beschränkt bleibt. Gleichzeitig gehört ein Bestand an Fotografien – Leichenberge, ausgemergelte Menschen hinter Stacheldraht, die Lagerbaracken – durchaus zum kollektiven Bildgedächtnis, so daß sie jederzeit abrufbar sind oder auch unbewußt abgerufen werden. Die mediale Inszenierung des Kosovo-Krieges operierte mit solchen Bildern, und auch bei den veröffentlichten Folter-Schnappschüssen aus Abu Ghraib bleiben entsprechende Assoziationen nicht aus.

Nun sind in den letzten Jahren mehrfach Fotodokumente der Schoa öffentlich in verschiedenen Plakataktionen und Kampagnen von sogenannten Tierrechtsaktivisten unterschiedlicher Ausrichtung gezeigt worden: Sie stellen nicht nur jene Bilder zur Schau, die in der Debatte, zu der sie eigentlich gehören, verborgen bleiben, sondern konfrontieren diese offensiv mit Aufnahmen aus Schlachthöfen und Massentierhaltung; 2003, also zwei Jahre nach den erwähnten Plakaten der Lea-Rosh-Kampagne, zeigte PETA, die weltweit größte Tierrechtsorganisation, im selben Format solche Plakate: links die Sterbenden in der Baracke des KZ Buchenwald, rechts die Käfighühner.

»In den Konzentrationslagern starben sechs Millionen Juden, aber sechs Milliarden Hühner werden in diesem Jahr in Schlachthäusern sterben, um als Brathähnchen zu enden«, rechtfertigte die PETA-Vorsitzende Ingrid Newkirk die Kampagne, die unter dem Slogan stand: »Der Holocaust auf Ihrem Teller«. In einer Gesellschaft, die bis heute eine konsequente Auseinandersetzung mit der Vernichtung verweigert, ist allein schon die Neukontextualisierung des Wortes »Holocaust« willkommen und wird mit Selbstverständlichkeit akzeptiert. Hier berief man sich auf den Schriftsteller und Literaturnobelpreisträger Isaac B. Singer, den man unter Verweis darauf, daß er selbst ein den Nazis entkommener Jude sei, zitiert: »Wenn es um Tiere geht, sind alle Menschen Nazis. Für die Tiere ist jeden Tag Treblinka.« – Diesen Satz machte Charles Patterson zum Titel und Motto eines Buches, in dem es um die Parallelen zwischen der Massentierhaltung und den faschistischen Vernichtungslagern geht. Ebenfalls als Motto ist dem Buch der Theodor W. Adorno zugeschriebene Satz vorangestellt: »Auschwitz fängt da an, wo jemand einen Schlachthof anschaut und denkt: Es sind ja nur Tiere.« In der Tierrechtsbewegung ist dieser Satz mittlerweile verbreitet und funktioniert als Theorieersatz; und auch wenn beispielsweise Jacques Derrida ihn in seiner Adornopreisrede zitiert, ist er wohl ein Hoax – abgesehen davon, daß auch wenn Adorno diesen Satz gesagt hätte, er damit ja nicht richtiger wäre. Tatsächlich findet sich bei Adorno in den »Minima Moralia« ein scheinbar ähnlicher Satz, der allerdings genau die zynische Logik freilegt, der die Tierrechtsaktivisten mit dem Holocaust-Vergleich konsequent folgen: »Vielleicht ist der gesellschaftliche Schematismus der Wahrnehmung bei den Antisemiten so geartet, daß sie die Juden überhaupt nicht als Menschen sehen. Die stets wieder begegnende Aussage, Wilde, Schwarze, Japaner glichen Tieren, etwa Affen, enthält bereits den Schlüssel zum Pogrom. Über dessen Möglichkeit wird entschieden in dem Augenblick, in dem das Auge eines tödlich verwundeten Tiers den Menschen trifft. Der Trotz, mit dem er diesen Blick von sich schiebt – ›es ist ja bloß ein Tier‹ –, wiederholt sich unaufhaltsam in den Grausamkeiten an Menschen, in denen die Täter das ›Nur ein Tier‹ immer wieder sich bestätigen müssen, weil sie es schon am Tier nie ganz glauben konnten.«

Allein in diesen Zeilen steckt nicht nur überhaupt die Theorie, die den gewöhnlichen Tierrechtsaktivisten gemeinhin abgeht, sondern zudem die für eine kritische Theorie entscheidende Dialektik, vor der die tierrechtsaktivistische Dummheit, wie sie unablässig von Organisationen wie PETA demonstriert wird, ohnehin kapituliert. Es ist eine Dialektik, die ihren Ausgangspunkt im gesellschaftlichen Verhältnis von Mensch und Tier hat: Sie hat die befreite Gesellschaft zum Ziel, die aber – nach der Marxschen kommunistischen Gleichung von »Humanismus = Naturalismus« – die Tiere mit einschließt. Auch in den linksradikalen Varianten der Tierrechtsbewegung scheint aber tendenziell die »Befreiung der Menschen« durch die »Befreiung der Tiere« ersetzt zu werden, weil beides als miteinander unvereinbar gilt. Selbst wenn der Ursprung des – auch militanten – Tierschutzes ein emotionales Unbehagen ist, bleibt der Rahmen der Aktivitäten die bestehende Gesellschaft: Kapitalismus mit freilaufenden Hühnern. »Theorie« beschränkt sich dann darauf, eine naive Moral zur pseudophilosophischen Ethik aufzubrezeln; und es verwundert nicht, daß die philosophischen Referenzen der Tierrechtsaktivisten über den menschenverachtenden Liberalismus und pseudohumanistischen Utilitarismus nicht hinauskommen – der »Euthanasie«befürworter Peter Singer wird gerne auch von militanten Veganern goutiert. Überdies ist schon die Formulierung eines Tierrechts höchst problematisch – weil damit geschichtliche Verhältnisse ontologisiert werden.

Der Versuch, die Lücke zwischen einer kritischen Theorie der Gesellschaft und einer begründeten Praxis gegen die Unterdrückung von Tieren zu schließen, war Thema einer Konferenz, die 2006 in Hamburg stattfand. Daraus hervorgegangen ist der von Susann Witt-Stahl herausgegebene Band »Das steinerne Herz der Unendlichkeit erweichen. Beiträge zu einer kritischen Theorie für die Befreiung der Tiere«. Das sind siebzehn Texte, streitbar und insgesamt von einem hohen theoretischen Niveau, durchweg als Einladung zu lesen, die hiermit begonnene Debatte fortzusetzen und auf die Agenda der für eine linksradikale Politik notwendigen Diskussionen zu setzen.

Den Anfang macht Moshe Zuckermann mit Überlegungen zum Verhältnis von Mensch und Tier, wie Adorno und Horkheimer es in der »Dialektik der Aufklärung« explizierten: »Die Idee des Menschen in der europäischen Geschichte drückt sich in der Unterscheidung vom Tier aus. Mit seiner Unvernunft beweisen sie die Menschenwürde.« Der Gedanke, daß die zivilisatorisch errungene Naturbeherrschung zugleich Selbstbeherrschung ist, daß die Befreiung von der Natur nur als ihre Unterdrückung sich durchsetzte, bildet das Grundmotiv der in dem Band versammelten Aufsätze: Tiere wie Menschen sind der kapitalistischen Verwertungslogik unterworfen, Menschen wie Tiere werden zu Waren verdinglicht. Und die ideologische Trennung von Mensch und Tier schlägt praktisch in die Angleichung des Humanen und Animalischen um: »Das Tierische wird das Menschliche und das Menschliche das Tierische«, notierte Marx in seinen Pariser Manuskripten 1844. Die Beiträge von Carsten Haker, Michael Sommer, Gunzelin Schmid Noerr, Marcus Hawel und Marco Maurizi führen dies kritisch-theoretisch in äußerst fruchtbarer Weise aus.

Ein weiterer Block von Texten widmet sich der Kritik der Tierrechtsbewegung, so etwa Arnd Hoffmann über »Utopielosigkeit von Antispeziesismus und Veganismus«, Colin Goldner über »Tierrechte und Esoterik« oder Günther Rogausch mit einem »Plädoyer für Ideologiekritik statt ›Tierethik‹«. Esther Leslie und Ben Watson führen den Komplex in die Bereiche der kritischen Ästhetik (u. a. unter Berufung auf den in Vergessenheit geratenen Aufklärer Giorgio Reimarus). Auch hier ist die Diskussion fortzusetzen, die übrigens in anderem Zusammenhang schon von Agamben aufgegriffen wurde (vgl. »Das Offene«, 2003): Das Tier, das – mitunter verzerrt und ohnmächtig – die Utopie der Versöhnung verkörpert.

 

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