Die Problematik der Mensch-Tier-Beziehung in der Soziologie:
Weber, Marx und die Frankfurter Schule
Von Susann Witt-Stahl
"Die Idee des Menschen in der europäischen Geschichte
drückt sich in der Unterscheidung vom Tier aus. Mit seiner Unvernunft beweisen
sie die Menschenwürde", lauten die ersten Sätze aus dem Kapitel
"Mensch und Tier" in Max Horkheimers und Theodor W. Adornos "Dialektik
der Aufklärung". Die beiden Soziologen hatten diese - inzwischen als
klassisches Werk der Philosophie gehandelte - Studie über das Scheitern
des Projekts Zivilisation im Bewusstsein tiefen Entsetzens über die grenzenlosen
Gewaltexzesse verfasst, zu der Formen bürgerlicher Herrschaft wuchern können.
Es war keine falsche Sentimentalität, die Horkheimer und Adorno trotz Auschwitz
wagen ließ, die Verfolgung der Juden und die Verfolgung der Tiere in einem
Atemzug zu nennen. Im Gegenteil: Auschwitz hatte ihre Vermutungen bestätigt,
dass interhumane Herrschaftsstrukturen in fataler Weise mit den gesellschaftlichen
Gewaltverhältnissen gegenüber Tieren verknüpft sind.
In ihrer Studie über die Mensch-Tier-Beziehung in der Soziologie rekonstruiert
und interpretiert Birgit Mütherich nicht nur die für ihr Thema zentralen
Aussagen aus dem Werk der Frankfurter Soziologen, sondern zeigt in dem Vergleich
des Ausnahmefalls Kritische Theorie mit der traditionellen Soziologie die ideologische
Verblendung einer Wissenschaft, die auf einen "geheimen cartesischen Ansatz"
und damit auf die Manifestation des Mensch-Tier-Dualismus baut.
Dabei geht Mütherich streng wissenschaftlich und systematisch vor. Sie
fragt, warum Tiere und die Mensch-Tier-Beziehung als Forschungsgegenstand in
der traditionellen Soziologie praktisch nicht vorkommen, und zwar in doppeltem
Sinne: "Einerseits die Problematik des Verhältnisses der Soziologie
zum Tier und zur Mensch-Tier-Beziehung, andererseits die Verarbeitung der Problematik
der Mensch-Tier-Beziehung durch die Soziologie."
Eine durchaus interessante Frage, denn dieser Wissenschaftsbereich hat durch
den Verzicht auf die Beschäftigung mit dem "aufschlussreichen Sozialleben
anderer Spezies" bereitwillig ureigenes Terrain an die Biologie abgetreten
und damit seine eigene "disziplinäre Abschottung" vollzogen.
Bevor die Autorin sich jedoch auf die intensive Suche nach Antworten in den
Gesellschaftstheorien ihrer Studienobjekte Karl Marx, Max Weber und den Protagonisten
der Frankfurter Schule macht, lotst sie ihre Leser mit bemerkenswertem wissenschaftlichen
Gespür für das Wesentliche durch die entscheidenden Stationen der
Ideen- und Kulturgeschichte unserer kurzsichtigen Spezies: Von der prähistorischen
Verehrung der Tiergötter über die Antike und ihrem Geist-versus-Natur-Denken,
dem Mittelalter mit seiner bereits erstarrten Mensch-Tier-Dichotomie, der Aufklärung
und ihrem Diktat der Vernunft, der Industrialisierung mit ihrer Verdinglichung
der Tiere in der Warenproduktion bis hin zum hoffnungsvollen Aufglimmen der
Tierethik und Tierrechtsidee im 19. und 20. Jahrhundert.
Anhand der Beispiele Marx und Weber zeigt die Wissenschaftlerin dann das Ausmaß
der "Disqualifizierung des tierlichen Individuums" in historisch wegweisenden
soziologischen Theorien. Weber ging von einem Gegensatz "sozial=geistig"
und "natürlich" aus und fokussierte das zweckrationale soziale
Handeln als zentrale Handlungsorientierung der modernen kapitalistischen Gesellschaft.
Damit verbannte er nicht nur die Tiere aus der Gemeinschaft der sozialen Wesen,
sondern auch Kleinkinder, senile und psychisch kranke Menschen. Eine Steigerung
erfährt das speziesistische Denken der Soziologen bei Karl Max und seinem
Fortschrittsglauben an die aus der Industrialisierung hervorgehende Selbstbefreiung
des Menschen im Klassenkampf und die Unterwerfung der Natur. Dabei wird das
Tier nicht nur zur Naturressource degradiert und auf seinen Gebrauchswert reduziert,
sondern seine Unterdrückung wird von dem Schöpfer des historischen
Materialismus als Bedingung für das Gelingen des menschlichen Emanzipationsprozesses
vorausgesetzt - das Tier reifte bei Marx zur "Antithese des (neuen) Menschen",
lautet das für alle Tierrechtler erschütternde Ergebnis der Soziologin.
Als mögliche Auswege der Wissenschaft aus der Misere der Verdinglichung
der Tiere nennt Birgit Mütherich nicht nur die Ansätze der Kritischen
Theorie, die auf die existentiellen Gemeinsamkeiten von Mensch und Tier, wie
beispielsweise der Wahrnehmung von Leiden, rekurrieren und mit ihrer grundsätzlichen
Ablehnung von Unterdrückung Speziesgrenzen durchbrochen haben. Sie widmet
sich auch ausführlich weniger bekannten Modellen von Denkern wie Gotthard
Martin Teutsch, Doris Janshen oder Theodor Geiger, der die Soziologen mahnt,
keine neue "posttheologische Scheidewand zwischen den Welten des Menschen
und des Tieres" zu errichten.
Wenn Birgit Mütherich auch ihre Eingangsfrage nach Gründen der Randständigkeit
der Tiere in der Soziologie im Laufe ihrer Abhandlung zur vollen Zufriedenheit
des Lesers selbst beantwortet, versäumt sie jedoch nicht, im Schlusskapitel
eines ihrer Studienobjekte, nämlich Max Weber, zu Wort kommen zu lassen:
"Was Gegenstand der Untersuchung wird und wie weit diese Untersuchung sich
in die Unendlichkeit der Kausalzusammenhänge erstreckt, das bestimmen die
den Forscher und seine Zeit beherrschenden Wertideen." Sicher wird die
Wissenschaftlerin es uns nicht übel nehmen, wenn wir diese Aussage als
Aufruf verstehen, die gesellschaftlich dominierende Wertewelt der grenzenlosen
Gewaltherrschaft über die Tiere zu beseitigen.
Das Buch ist äußerst lesenswert, schon allein aufgrund der präzisen
Sprache, in der komplizierte Zusammenhänge dargestellt und reflektiert
werden - eine Arbeit auf hohem wissenschaftlichen Niveau.
Die Problematik der Mensch-Tier-Beziehung in der Soziologie:
Weber, Marx und die Frankfurter Schule von Birgit Mütherich ist 2000 in
der Reihe Dortmunder Beiträge zur Sozial- und Gesellschaftspolitik (Bd.
28) im Münsteraner Lit Verlag erschienen, 248 Seiten stark und kostet 20,50
Euro.
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