Das Mensch-Tier-Verhältnis in der kritischen Theorie Adornos und Horkheimers






Gliederung:
0. Einleitung
1. Geschichtlich-gesellschaftliche Beschreibungen des Mensch-Tier-Verhältnisses
2. Zur geschichtlichen Dialektik von Vernunft und Natur
2.1 Zur Entstehungsgeschichte des Denkens
2.2 Gott als Geist tritt der Natur als das andere Prinzip entgegen
2.3 Die Herausbildung der bürgerlich-patriarchalen Subjektivität
Bürgerliche Subjektivierung als Triebunterdrückung und Abgrenzung vom Tier

2.4 Tiere und Menschen als Opfer pathischer Projektion
Das Tabu des Rückfalls in Natur/ den Tierzustand

3. Allgemeine Reflexionen zu Gemeinsamkeiten und Unterschieden von Mensch und Tier
4. Die negative Moralphilosophie der kritischen Theorie
4.1 Der materialistische Ansatz der kritischen Theorie
4.1.1 Moral gesellschaftlich
4.1.2 Moral geschichtlich
4.1.2.1 Mitleid in der (Moral-)Geschichte
4.1.2.2 Schopenhauer und seine Bedeutung für die kritische Theorie
4.2 Das Verhältnis von Rationalität und Gefühl in traditioneller und kritischer Moral
4.2.1 Das moralische Gefühl bei Horkheimer
4.2.2 Der moralische Impuls bei Adorno
4.3 Politik
4.4 Das Zusammenwirken von moralischem Impuls und Reflexion
4.5 Das negative Moment der kritischen Theorie
4.6 Das Eingedenken der Natur im Subjekt

 

0. Einleitung

Der kritische Blick Theodor W. Adornos (1903-1969) und Max Horkheimers (1895-1973) auf das Verhältnis der menschlichen Gesellschaft zum Tier ist ein besonderer Ausdruck ihrer allgemeineren Analyse der bürgerlichen Gesellschaft und deren Vernunftprinzips.

Ihre Theorie hielt in ihren Anfangszeiten, also in den zwanziger und dreißiger Jahren, noch halbwegs ungebrochen an konsequent aufklärerisch-abendländischer Tradition fest, in Form einer Kritik am auf partikulare Selbsterhaltung fixierten, von sozio-ökonomischen Bedingungen sich losgelöst dünkenden Vernunftbegriff der idealistisch-bürgerlichen Aufklärung. Diesen ersetzten sie durch einen (auf Marx zurückgehenden) materialistisch, ökonomieanalytisch gewendeten, der auf die vernünftige Organisation des gesellschaftlichen Ganzen und seiner Produktionsweise im Sinne einer "Assoziation freier Menschen" abzielt. Der materialistische Ansatz überwindet die selbst der progressiven idealistischen Philosophie innewohnende Tendenz, von den ökonomisch-gesellschaftlichen Herrschaftsverhältnissen zu abstrahieren, auf diese Weise nicht zur Basis des gesellschaftlichen Unrechts vorzudringen und somit zu dessen Aufrechterhaltung beizutragen.

Programmatisch führt Horkheimer diesen Ansatz aus in seinem Aufsatz Traditionelle und kritische Theorie von 1937.
"Das Zusammenwirken der Menschen in der Gesellschaft ist die Existenzweise ihrer Vernunft, so wenden sie ihre Kräfte an und bestätigen ihr Wesen. Zugleich jedoch ist dieser Prozeß mitsamt seinen Resultaten ihnen selbst entfremdet, erscheint ihnen mit all seiner Verschwendung von Arbeitskraft und Menschenleben, mit seinen Kriegszuständen und dem ganzen sinnlosen Elend als unabänderliche Naturgewalt, als übermenschliches Schicksal." (TuK 220f.) Diese Naturgewalt zu analysieren, um sie abwenden zu können, macht die kritische Theorie sich zur Aufgabe. Horkheimer beschreibt sie als kritisches Verhalten, "das die Gesellschaft selbst zu seinem Gegenstand hat", die "Erkenntnis des historischen Verlaufs des Ganzen als treibendes Motiv" sich zur Aufgabe mache und somit auf die Kritik der gesellschaftlichen Totalität in ihrer geschichtlichen Entwicklung abzielt. "Es ist nicht nur darauf gerichtet, irgendwelche Mißstände abzustellen, diese erscheinen ihm vielmehr als notwendig mit der ganzen Einrichtung des Gesellschaftsbaus verknüpft." (TuK 223) Sie wendet sich sowohl gegen bürgerliches Denken als auch gegen völkische Ideologie, die sie als miteinander vermittelte Gegensätze begreift. Das "bürgerliche Denken" sei das eines sich autonom dünkenden Subjekts, das das Ego zum obersten Prinzip macht. Die sich als Gegensatz dazu verstehende "völkische Ideologie" sei eine Gesinnung, die sich "für den unproblematischen Ausdruck einer schon bestehenden Gemeinschaft hält. [...] Das rhetorische "Wir" [der bürgerlichen Rede] wird hier im Ernst gebraucht. Das Reden glaubt, das Organ der Allgemeinheit zu sein." (TuK 227) Die kritische Theorie sei beiden Formen entgegengesetzt. "Es ist weder die Funktion eines isolierten Individuums noch die der Allgemeinheit von Individuen. Es hat vielmehr bewußt ein bestimmtes Individuum in seinen wirklichen Beziehungen mit anderen Individuen und Gruppen, in seiner Auseinandersetzung mit einer bestimmten Klasse und schließlich in der so vermittelten Verflechtung mit dem gesellschaftlichen Ganzen und der Natur zum Subjekt." (ebd.) Dabei habe sie keine andere spezifische Instanz als "das mit ihr selbst verknüpfte Interesse an der Aufhebung des gesellschaftlichen Unrechts." (TuK 259)

Die weltgeschichtliche Katastrophe von Auschwitz zwingt Adorno und Horkheimer zu einer grundlegenden Revision ihrer Theorie. Das kollektiv verhängte Todesurteil der Nazis über die Juden und die industriell durchgeführte Massenvernichtung bedeuteten einen Bruch in der Geschichte, der die der Zivilisation innewohnende Tendenz zur Barbarei aufgewiesen hat, eine Barbarei, die alles vorher dagewesene in den Schatten stellt und daher die von Zivilisation und aufgeklärter Vernunft in Anspruch genommene Entbarbarisierung unwiderruflich widerlegt hat. Der für ihre Theorie entscheidende Wechsel deutet sich in Horkheimers Aufsatz Vernunft und Selbsterhaltung von 1942 an. Dort wird die historische Entwicklung zum Anlaß einer Reflexion des aufklärerischen Vernunftbegriffes genommen. "Die Stammesbegriffe der westlichen Zivilisation sind dabei, zu zerfallen. Die neue Generation setzt nicht mehr viel Vertrauen in sie. Vom Faschismus wird sie im Verdacht bestärkt. Die Frage ist an der Zeit, wieweit die Begriffe noch haltbar sind. Zentral ist der Begriff der Vernunft." (VuS 271) Deren "Bestimmungen, in eine zusammengefaßt, sind die optimale Anpassung der Mittel an den Zweck, das Denken als arbeitssparende Funktion. Sie ist ein Instrument, hat den Vorteil im Auge, Kälte und Nüchternheit als Tugenden." (VuS 274) Vernunft stehe in der Tradition, in der "Selbsterhaltung alles unter ihren Willen zwingt, was sich nicht wehren kann." (VuS 291) Horkheimer kritisiert hier nicht die Vernunft als Mittel zum Verlassen des Naturzustandes, sondern als Mittel zur Herrschaft über Natur. "In den Erklärungen der idealistischen Philosophen, daß die Vernunft den Menschen vom Tier unterscheide, in denen das Tier erniedrigt wird [...], ist die Wahrheit enthalten, daß mit der Vernunft der Mensch aus der Befangenheit der Natur erwacht; nicht freilich, wie sie meinen, um diese zu beherrschen, sondern um sie zu begreifen." (VuS 299f.)

Diese Kritik wird in Adornos und Horkheimers gemeinsam in den Jahren 1942-1944 verfaßten Dialektik der Aufklärung mittels einer kritischen Selbstreflexion der Vernunft anhand der Geschichte des herrschaftlichen Denkens seit seinen Anfängen entfaltet zu einer geschichtlichen "Phänomenologie des Widergeistes" (ND 349). Unter Beibehaltung der materialistischen Ökonomiekritik wird die Theorie erweitert um die eingehende Reflexion des Verhältnisses von Vernunft und Natur. Als Erkenntnisziel formulieren die Autoren im Vorwort die Frage, "warum die Menschheit, anstatt in einen wahrhaft menschlichen Zustand einzutreten, in eine neue Art von Barbarei versinkt." Ausgangspunkt ist die Beobachtung einer "rastlose[n] Selbstzerstörung der Aufklärung". "Der Einzelne wird gegenüber den ökonomischen Mächten vollends annulliert. Dabei treiben diese die Gewalt der Gesellschaft über die Natur auf nie geahnte Höhe." (DA 4)

Die Unterwerfung alles Natürlichen unter das selbstherrliche Subjekt gipfele dabei gerade in der Herrschaft des blind Objektiven, Natürlichen. Diese Tendenz ebne alle Unterschiede des bürgerlichen Denkens ein.

Das Mensch-Tier-Verhältnis ist in erster Linie in der Dialektik der Aufklärung Thema, ansonsten eher verstreut in einigen Notizen und regelmäßig wiederkehrend am Rande von Aufsätzen Horkheimers (Abschnitt 1). Es gibt einen Schwerpunkt ihrer Theorie, der für diese Thematik eine große Rolle spielt, und das ist die zivilisationsgeschichtliche Dialektik von Vernunft und Natur in Form einer "naturverfallenen Naturbeherrschung" und die aus dieser Dialektik hervorgehende "pathische Projektion", die sich vor allem gegen Tiere und Tieren als ähnlich geltende Menschen richtet. Dieser Aspekt wird im Abschnitt 2 behandelt. Abschnitt 3 führt Beschreibungen Horkheimers zu grundlegenden Gemeinsamkeiten und Unterschieden von Mensch und Tier an; diese sind relevant für die in Abschnitt 4 angedeutete negative Moralphilosophie Adornos und Horkheimers.

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1. Geschichtlich-gesellschaftliche Beschreibungen des Mensch-Tier-Verhältnisses

In ihrer negativen "philosophische[n] Konstruktion der Weltgeschichte" (DA 235) als eine unter dem Bann der Herrschaft und des Grauens, reflektieren Adorno und Horkheimer das geschichtliche Verhältnis des Menschen zum Tier hinsichtlich des Selbstbildes des vernünftigen Menschen und seiner Auswirkungen auf die Tiere: "Die Idee des Menschen in der europäischen Gesellschaft drückt sich in der Unterscheidung vom Tier aus. Mit seiner Unvernunft beweisen sie die Menschenwürde. Mit solcher Beharrlichkeit und Einstimmigkeit ist der Gegensatz von allen Vorvorderen des bürgerlichen Denkens, den alten Juden, Stoikern und Kirchenvätern, dann durchs Mittelalter und in die Neuzeit hergebetet worden, daß er wie wenige Ideen zum Grundbestand der westlichen Anthropologie gehört. […] Dem Menschen gehört die Vernunft, die unbarmherzig abläuft " (DA 262): "In Krieg und Frieden, Arena und Schlachthaus, vom langsamen Tod des Elefanten, den primitive Menschenhorden auf Grund der ersten Planung überwältigten, bis zur lückenlosen Ausbeutung der Tierwelt heute, haben die unvernünftigen Geschöpfe stets Vernunft erfahren." (ebd.) Lückenlos geworden ist die Ausbeutung der Tiere vor allem durch die Ausbreitung der bürgerlichen Warenwirtschaft und der mit ihr verbundenen "Entfesselung der Produktivkräfte", d.h. der Industrialisierung und Technologieentwicklung, und der im Dienst jener stehenden Wissenschaft. Sie drückt sich aus in Tierversuchen, moderner Schlachtung, Jagd, Zoos und Zirkussen und der Ausrottung von Wildtieren:

Vernünftige Wissenschaftler zwängen in ihren "scheußlichen Laboratorien" den "verstümmelten Tierleibern" ihre Formeln und Resultate ab. Dem Tier, aus dem sie "den blutigen Schluß" ziehen, bliebe nur das "unvernünftige Entsetzen", der "Trieb zur Flucht, die ihm abgeschnitten ist" (ebd.). Die Beobachtung von Tierversuchen und Transporten von Tieren zum Schlachthof veranlaßte Horkheimer zu Reflexionen, in denen er die Situation der Tiere als "Tierhölle der menschlichen Gesellschaft" (NDÄ 287f.) beschrieb. In den "Verliesen des Gesellschaftsbaus" (MHGS 7, 104ff.) richte die Gesellschaft das "Leiden der Kreatur" an zum Zwecke der "fieberhafte[n] Herstellung von zweifelhaften Luxusgütern" mittels "unzweifelhaften Zerstörungsmitteln": eine "Genialität der Produktion, die keine Zeit zum Denken läßt" und für deren obersten Zweck, die "Steigerung der Lebenserwartung und des Lebensstandards, der Güter höchste in der automatisierten Welt" keine Opferung "dessen, was draußen ist", zu groß ist. Auf diese Weise ziehe die Gesellschaft "Stumpfheit und Borniertheit, Leichtgläubigkeit und Anpassungsbereitschaft ans jeweils Mächtige und Zeitgemäße als herrschende Gemütsverfassung groß".

Als "unbeschreiblich töricht und grausam" gegenüber Tieren erwiesen sich die Menschen auch in Zoos und Zirkussen; der Mensch gehöre zur "einzigen Rasse, die Exemplare anderer Rassen gefangenhalten oder sonst auf eine Art quälen, bloß um sich selbst dabei groß vorzukommen." (NDÄ 72f.) Horkheimer beschreibt das Schicksal von Elefanten im Zirkus: "Mit Peitsche und Eisenhaken wird das bedächtige Tier hereingeführt. Es hebt auf Kommando den rechten, linken Fuß, den Rüssel, dreht sich im Kreise, legt sich mit Mühe nieder, und schließlich steht es, unter Peitschengeknall, auf zwei Beinen, die den schweren Leib kaum halten können. Das ist seit vielen hundert Jahren, was der Elefant zu tun hat, um den Menschen zu gefallen." (NDÄ 54f.) Gegenüber der "Dummheit der Zuschauer" nehme dabei die Gestalt des Elefanten "wie das Abbild der ewigen Weisheit sich aus, die unter Narren um des lieben Friedens willen ein paar närrische Gesten macht".

Wilde, in den Restbeständen freier Natur lebende Tiere wie die Giraffe oder der Elefant würden als bloße "Seltsamkeiten" angesehen, "an denen sich kaum mehr ein gewitzigter Schuljunge verlustiert. Sie bilden […] ein Verkehrshindernis" für die sich ausbreitende Zivilisation und werden daher "ganz abgeschafft" (DA 268). Andere Tiere bekommen die patriarchale Naturliebe zu spüren, die sich ausdrückt in der Regression auf die "archaische Ungeschiedenheit von Liebe und Überwältigung" (DA 202), im "Beschlagnahmen" des Tierkörpers. In der Jagd verbänden sich "in guter reaktionärer Tradition […] die lutherisch-deutsche Lust am fröhlichen Morden mit der gentilen Fairneß des Herrenjägers" (DA 270). Der Jäger oder Antreiber rücke als "verdrängender Sodomit" (DA 202) den Tieren auf den Leib, denn deren "Zeichen der Ohnmacht, die hastigen unkoordinierten Bewegungen, Angst der Kreatur fordern die Mordgier heraus." (DA 120).

Angesichts der Tatsache, daß "seit ihrem Aufstieg die species Mensch den anderen sich […] als die entwicklungsgeschichtlich höchste und daher vollkommenste Vernichtung" (DA 199) zeigt, für deren "blutigen Zweck der Herrschaft [...] die Kreatur nur Material" (DA 270) sei, hegen die Autoren keine großen Hoffnungen für die zukünftige Entwicklung: Die Vernichtungsfähigkeit des Menschen verspreche "so groß zu werden, daß – wenn diese Art sich einmal erschöpft hat – tabula rasa gemacht ist. Entweder zerfleischt sie sich selbst, oder sie reißt die gesamte Fauna und Flora der Erde mit hinab, und wenn die Erde dann noch jung genug ist, muß […] auf einer viel tieferen Stufe die ganze chose noch einmal anfangen." (DA 236)

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2. Zur geschichtlichen Dialektik von Vernunft und Natur

2.1 Zur Entstehungsgeschichte des Denkens

Die Beschreibungen des Mensch-Tier-Verhältnisses in der kritischen Theorie sind ein Teil einer umfassenden geschichtsphilosophischen Analyse der Dialektik von Vernunft und Natur und der damit zusammenhängenden Urgeschichte der bürgerlichen Subjektivität. Diese Urgeschichte spielt für das herrschende Mensch-Tier-Verhältnis eine wesentliche Rolle. Zunächst erläutert werden soll die kritisch-theoretische Konstruktion der Dialektik von Vernunft und Natur; in der Negativen Dialektik findet sich hierzu eine stark komprimierte Zusammenfassung:

"Dass Vernunft ein anderes als Natur und doch ein Moment von dieser sei, ist ihre zu ihrer immanenten Bestimmung gewordene Vorgeschichte. Naturhaft ist sie als die zu Zwecken der Selbsterhaltung abgezweigte psychische Kraft; einmal aber abgespalten und der Natur kontrastiert, wird sie auch zu deren Anderem. Dieser ephemer (für nur kurze Zeit, flüchtig) entragend, ist Vernunft mit Natur identisch und nichtidentisch, dialektisch ihrem eigenen Begriff nach. Je hemmungsloser jedoch die Vernunft in jener Dialektik sich zum absoluten Gegensatz der Natur macht und an diese in sich selbst vergißt, desto mehr regrediert sie, verwilderte Selbsterhaltung, auf Natur; einzig als deren Reflexion wäre Vernunft Übernatur." (ND 285)

Will heißen: Denken war seit seinen Anfängen ein Instrument des Menschen, die eigene Existenz der umgebenden Natur abzugewinnen, durch Objektivierung von Natur sowie durch geschickte Anpassung an widrige natürliche Verhältnisse. Der Zweck der Selbsterhaltung ist das naturhafte Element des Denkens, denn das selbsterhaltende Subjekt ist nichts anderes als "Lebendiges, das gegen Lebendiges sich behaupten möchte" (DA 61) Vernunft ist somit mit Natur identisch und nicht-identisch: "Als ein Teil der Natur ist die Vernunft zugleich der Natur entgegengesetzt - der Konkurrent und Feind allen Lebens, das nicht ihr eigenes ist." (KiV 121f.) Insofern Vernunft lediglich ein Organ der Naturbeherrschung ist, ist es daher in Natur befangen. So setzt "Menschliche Geschichte, die fortschreitender Naturbeherrschung, [...] die bewußtlose der Natur, Fressen und Gefressenwerden, fort." (ND 348) Solange Vernunft nicht eben diese ihre Natürlichkeit kritisch reflektiert und Herrschaft zurücknimmt, setzt sich gesellschaftliche "Naturgeschichte" fort. Horkheimer und Adorno verwenden auch den Begriff der "Vorgeschichte" für alle menschliche Geschichte, die einer Verwirklichung der klassenlosen Weltgesellschaft vorangeht, sowie den der "zweiten Natur" für eine nach den Zwecken der naturbeherrschenden Selbsterhaltung blind-naturwüchsig funktionierenden Gesellschaft.

Durch Denken als Instrument zur Selbsterhaltung versuchte der Mensch seit je, sich gegen die Willkür der Natur zu behaupten und die Angst vor ihr zu überwinden. In magischen Stufen der Entwicklung geschah dies durch Mimesis, durch Nachahmung der Naturmächte, um sie zu beeinflussen: Die verzerrten Züge der Maske des Magiers spiegeln den Schrecken der Natur, durch rituelle Tänze versucht er, sie und seine Angst zu überwinden. Mimesis als Trieb zur Nachahmung, der im Kind den entscheidenden Antrieb zum Lernen ausmacht, ist zugleich naturhafter Impuls der Nachahmung/Identifikation mit Natur wie der Beginn der Aufklärung als Loslösung von der bedrohlichen Natur bzw. der Überwindung ihrer Bedrohung, denn Zweck der Aufklärung "im umfassendsten Sinn fortschreitenden Denkens" sei Horkheimer und Adorno zufolge seit je das Ziel, "von den Menschen die Furcht zu nehmen und sie als Herren einzusetzen." (DA 9) Im magischen Stadium der Anrufung und Nachahmung von Naturmächten, sind Subjekt und Objekt, Geist und Natur, noch nicht getrennt, doch die Trennung ist bereits angelegt. "Wenn der Baum nicht mehr bloß als Baum sondern als Zeugnis für ein anderes, als Sitz des Mana (magische Naturmacht, Allmacht) angesprochen wird, drückt die Sprache den Widerspruch aus, daß nämlich etwas es selber und zugleich etwas anderes als es selber sei, identisch und nichtidentisch." (DA 21) Die Entstehung des begrifflichen Denkens markiert den Übergang von Magie zum Mythos. Der Mythos als Erzählung stellt Natur(mächte) begrifflich dar. Der Begriff ist nicht Natur, er bedeutet sie bzw. ihre Macht und soll sie erfassen, deuten. "Der Mythos wollte berichten, nennen, den Ursprung sagen" und damit bereits "darstellen, festhalten, erklären" (DA 14). Geist und Natur beginnen auseinanderzutreten, das Subjekt beginnt zu erwachen.

Fortschreitendes Denken führt zu stetig rationalerer Selbstbehauptung und Erforschung der Natur zum Zwecke ihrer Nutzbarmachung und Beeinflussung. In seiner weiteren Entwicklung hat sich der menschliche Geist zum Zwecke der Emanzipation von Naturzwängen immer radikaler der Natur entgegengesetzt, diese immer mehr auf ein Herrschaftsobjekt reduziert, "entzaubert", also entmythologisiert, d.h. die ihr angeblich innewohnende eigenständige Bedeutung als Aberglauben entlarvt, bis diese nichts mehr ist als bloßes Material, das zu beherrschen ist.

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2.2 Gott als Geist tritt der Natur als das andere Prinzip entgegen

Die Naturmächte, denen sich der Magier angleicht, bestehen noch aus Geistern und Dämonen, im Zuge fortschreitenden Denkens und Loslösung von Natur lösen auch diese imaginierten Machtwesen sich aus ihrer Naturgestalt: sie werden zu Göttern, bekommen anthropomorphe Gestalt und stehen für die Beherrschung von Natur und Naturmächten, nicht mehr für diese selbst. "Gott als Geist tritt der Natur als das andere Prinzip entgegen." (DA 186); Diese Änderung in der mythischen Anschauung spiegelt die fortschreitende Distanzierung des Menschen von der Natur wider. "Die Menschen distanzieren denkend sich von Natur, um sie so vor sich hinzustellen, wie sie zur beherrschen ist." (DA 46); "Das Sein zerfällt von nun an in den Logos (göttliche Vernunft) [...] und in die Masse aller Dinge und Kreaturen draußen." (DA 14)

"Ohne Rücksicht auf die Unterschiede wird die Welt dem Menschen untertan" (ebd.): Das durch fortschreitende Naturbeherrschung hervorgerufene "Erwachen des Subjekts" bedingt die Verabsolutierung von Herrschaft des Geistes über Natur, deren Erhebung zum Prinzip, es wird "erkauft durch die Anerkennung der Macht als des Prinzips aller Beziehungen." (DA 15) Gegenüber der Einheit solcher herrschaftlichen Vernunft sinke der Scheidung von Gott und Mensch zur Irrelevanz herab. "Als Gebieter über Natur gleichen sich der schaffende Gott und der ordnende Geist. Die Gottesebenbildlichkeit des Menschen besteht in der Souveränität übers Dasein, im Blick des Herrn, im Kommando." (ebd.) Konsequente Aufklärung schafft daher schließlich den Glauben an Götter ganz ab und an dessen Stelle inthronisiert das gottesebenbildliche bürgerliche Subjekt sich selbst.

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2.3 Zur Herausbildung der bürgerlich-patriarchalen Subjektivität
bürgerliche Subjektivierung als Triebunterdrückung und Abgrenzung vom Tier

Die Spaltung von Herrschaftssubjekt Geist und Herrschaftsobjekt äußerer, d.h. nicht-menschlicher / körperlicher Natur, spiegelt sich wider im Herrschaftsverhältnis Geist und innerer Natur, d.h. im Verhältnis zwischen Ich und Es, zwischen Vernunft und Triebstruktur. Die Dialektik von Vernunft und Natur greift über auf das naturbeherrschende Subjekt. "Wie der Geist nichts als ein Moment der Natur ist, solange er in seinem Gegensatz zur Natur beharrt, so ist das Individuum nichts als ein biologisches Exemplar, solange es bloß die Verkörperung eines Ichs ist, das durch die Koordinierung seiner Funktionen im Dienst der Selbsterhaltung bestimmt wird." (KiV 131)

Die "Spaltung des Lebens in den Geist und seinen Gegenstand" bedingt, daß das Subjekt seiner innere Natur unterdrückt und verdrängt. "Jedes Subjekt hat nicht nur an der Unterjochung der äußeren Natur, der menschlichen und der nichtmenschlichen, teilzunehmen, sondern muß, um das zu leisten, die Natur in sich selbst unterjochen." (KiV 94) Es muß mimetische Impulse unterdrücken, denn es darf sich in der "Identifizierung mit anderem nicht [mehr] verlieren" (DA 16). Es muß auf spontane Lust verzichten, muß entsagen können, muß arbeiten und leisten um der versprochenen Erfüllung von Glück in der Zukunft willen. "Furchtbares hat die Menschheit sich antun müssen, bis das Selbst, der identische, zweckgerichtete, männliche Charakter des Menschen geschaffen war, und etwas davon wird noch in jeder Kindheit wiederholt." (DA 40) Die "patriarchal zweckvolle Härte" (DA 83) wird zum Ziel der Erziehung und zur obersten Tugend die gesamte Zivilisation hindurch. Im gesellschaftlichen Umgang mit Tieren offenbart sich der Charakter dieser Tugend besonders deutlich. "In der Blindheit gegen das Dasein der Tiere hat sich in der bisherigen europäischen Gesellschaft die gehemmte Entwicklung der Intelligenz und Instinkte gezeigt. Ihr Los in unserer Zivilisation spiegelt die ganze Kälte und Borniertheit des vorherrschenden menschlichen Typus wider." (EF 119)

Die Erinnerung an Natur ist mit den höchsten Tabus belegt. "Mimetische, mythische, metaphysische Verhaltensweisen galten nacheinander als überwundene Weltalter, auf die hinabzusinken mit dem Schrecken behaftet war, daß das Selbst in jene bloße Natur zurückverwandelt werde, der es sich mit unsäglicher Anstrengung entfremdet hatte, und die ihm eben darum unsägliches Grauen einflößte. Die lebendige Erinnerung an die Vorzeit, schon an die nomadischen, um wie viel mehr an die eigentlich präpatriarchalischen Stufen, war mit den furchtbarsten Strafen in allen Jahrtausenden aus dem Bewußtsein der Menschen ausgebrannt worden. Der aufgeklärte Geist ersetzte Feuer und Rad durch das Stigma, das er aller Irrationalität aufprägte, da sie ins Verderben führt." (DA 37) Die Tabuisierung des Rückfalls in den Tierzustand spiegelt sich in den Märchen und Mythen wider.

"In den Märchen der Nationen kehrt die Verwandlung von Menschen in Tiere als Strafe wieder. In einen Tierleib gebannt zu sein, gilt als Verdammnis. Kindern und Völkern ist die Vorstellung solcher Metamorphosen unmittelbar verständlich und vertraut. Auch der Glaube an die Seelenwanderung in den ältesten Kulturen erkennt die Tiergestalt als Strafe und Qual. Die stumme Wildheit im Blick des Tiers zeugt von demselben Grauen, das die Menschen in solcher Verwandlung fürchteten. Jedes Tier erinnert an ein abgründiges Unglück, das in der Urzeit sich ereignet hat. Das Märchen spricht die Ahnung der Menschen aus. Wenn aber dem Prinzen dort die Vernunft geblieben war, so daß er zur gegebenen Zeit sein Leiden sagen und die Fee ihn erlösen konnte, so bannt der Mangel an Vernunft das Tier auf ewig in seine Gestalt, es sei denn, daß der Mensch, der durch Vergangenes mit ihm eins ist, den erlösenden Spruch findet und durch ihn das steinerne Herz der Unendlichkeit am Ende der Zeiten erweicht." (DA 264)

Sowie der Mensch durch Vernunft Leid und Tod von Tieren verursacht, ist ihm durch vernünftige Reflexion dieser Vernunft auch die Möglichkeit zur Versöhnung gegeben. Doch immer noch läuft Vernunft unbarmherzig ab, denn "Die Sorge ums vernunftlose Tier [...] ist dem Vernünftigen müßig." (ebd.) Vernunft bedingt ein steinernes Herz: Verhärtung gegenüber Natur und Tieren.

"Die Strenge, mit welcher im Laufe der Jahrtausende die Herrschenden ihrem eigenen Nachwuchs wie den beherrschten Massen den Rückfall in mimetische Daseinsweisen abschnitten, angefangen vom religiösen Bilderverbot über die soziale Ächtung von Schauspielern und Zigeunern bis zur Pädagogik, die den Kindern abgewöhnt, kindisch zu sein, ist die Bedingung der Zivilisation. Gesellschaftliche und individuelle Erziehung bestärkt die Menschen in der objektivierenden Verhaltensweise von Arbeitenden und bewahrt sie davor, sich wieder aufgehen zu lassen im Auf und Nieder der umgebenden Natur. Alles Abgelenktwerden, ja, alle Hingabe hat einen Zug von Mimikry. In der Verhärtung dagegen ist das Ich geschmiedet worden." (DA 189)

Dieses Ich muß in jeder Kindheit neu geschmiedet werden; das Kind muß sich die Identifizierung mit anderem abgewöhnen, seinen mimetischen Impuls verdrängen. Für Adorno ist diese Verdrängung beteiligt am Versagen der Kultur. Er macht dies anhand einer Kindheitserinnerung deutlich:

"Ein Hotelbesitzer, der Adam hieß, schlug vor den Augen des Kindes, das ihn gern hatte, mit einem Knüppel Ratten tot, die auf dem Hof aus Löchern herausquollen; nach seinem Bilde hat das Kind sich das des ersten Menschen geschaffen. Daß das vergessen wird; daß man nicht mehr versteht, was man einmal vorm Wagen des Hundefängers empfand, ist der Triumph der Kultur und deren Mißlingen. Sie kann das Gedächtnis jener Zone nicht dulden, weil sie immer wieder dem alten Adam es gleichtut, und das eben ist unvereinbar mit ihrem Begriff von sich selbst. Sie perhorresziert (verabscheut) den Gestank, weil sie stinkt; weil ihr Palast, wie es an einer großartigen Stelle von Brecht heißt, gebaut ist aus Hundescheiße." (ND 359)

Kinder zeigen in ihren spontanen, "unpraktischen", nicht-zweckgerichteten Handeln, im mimetischen, nachahmenden Impuls größere Nähe zu höheren Tieren wie den Menschenaffen als Erwachsene, daher das Wort "nachäffen". Die "Albernheit" des Clowns symbolisiert in der Kunst das Erwachsenen im Normfall erfolgreich ausgetriebene Kindliche und Tierhafte.

"Im clownischen Element erinnert Kunst tröstlich sich der Vorgeschichte in der tierischen Vorwelt. Menschenaffen im Zoo vollführen gemeinsam, was den Clownsakten gleicht. Das Einverständnis der Kinder mit den Clowns ist eines mit der Kunst, das die Erwachsenen ihnen austreiben, nicht weniger als das mit den Tieren. Nicht so durchaus ist der Gattung Mensch die Verdrängung ihrer Tierähnlichkeit gelungen, daß sie diese nicht jäh wiedererkennen könnte und dabei von Glück überflutet wird; die Sprache der kleinen Kinder und der Tiere scheint eine. In der Tierähnlichkeit der Clowns zündet die Menschenähnlichkeit der Affen; die Konstellation Tier/Narr/Clown ist eine von den Grundschichten der Kunst." (ÄT 181f.)

Desweiteren drückt die "unpraktische" kindliche Sichtweise der Tiere die Utopie einer Existenz jenseits der Warengesellschaft aus. Dem Tauschprinzip kommt es an auf den "Erwerb, der [...] Tätigkeiten als bloße Mittel beschlagnahmt, vertauschbar reduziert auf die abstrakte Arbeitszeit." (MM 259) Die Praxis der Kinder dagegen ist nicht praktisch, ihre anfängliche Weigerung, den gesamten Seinsbereich als ein Gebiet von Mitteln zu betrachten, drückt sich in ihrem Verhältnis zu Tieren aus:

"Vollends beruht das Verhältnis der Kinder zu den Tieren darauf, daß die Utopie in jene sich vermummt, denen Marx es nicht einmal gönnt, daß sie als Arbeitende Mehrwert liefern. Indem Tiere ohne den Menschen irgend erkennbare Aufgabe existieren, stellen sie als Ausdruck gleichsam den eigenen Namen vor, das schlechterdings nicht Vertauschbare. Das macht sie den Kindern lieb und ihre Betrachtung selig. Ich bin ein Nashorn, bedeutet die Figur des Nashorns." (MM 261)

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2.4 Tiere und Menschen als Opfer pathischer Projektion
Das Tabu des Rückfalls in Natur/den Tierzustand

Erst die Unterdrückung des Triebs trennt den Menschen vom Tier. Die "Bändigung des Triebs durch die Vernunft" (DA 55) führt dazu, daß der Mensch "das Bewußtsein seiner selbst als Natur sich abschneidet" (DA 61). Triebe werden tabuisiert und mit dem Tier gleichgesetzt, über das der Mensch sich zu erheben sich anstrengt. "Der Affekt wird dem Tier gleichgesetzt, das der Mensch unterjocht." (DA 54) Dies führt zur Projektion verdrängter Triebimpulse auf Tiere und andere Menschen, die als Tiere oder tierähnlich verunglimpft werden und in deren Bestrafung und Verfolgung sich der Verdrängende seinem Unmut und seiner Aggression über die Verdrängung freien Lauf lassen und gleichzeitig als Vollstrecker der Zivilisation fühlen kann. Diesen Mechanismus nennen Adorno und Horkheimer "pathische Projektion". Allgemeiner ausgedrückt meint dieser Begriff die Projektion eigener, gesellschaftlich tabuierter und daher verdrängter Triebimpulse und Gefühlsregungen vorzugsweise auf nicht dem eigenen (Volks-)Kollektiv angehörende und gesellschaftlich abgewertete, weil der Natur angeblich näherstehenden, Individuen bzw. (konstruierte) Gruppen, um sie dort zu verfolgen und in der Verfolgung die verdrängten Impulse bzw. die unbewußte Wut über deren Verdrängung auszuleben und sich dadurch als rechtschaffener Durchsetzer des Tabus zu fühlen.

"Die psychoanalytische Theorie der pathischen Projektion hat als deren Substanz die Übertragung gesellschaftlich tabuierter Regungen des Subjekts auf das Objekt erkannt. Unter dem Druck des Über-Ichs projiziert das Ich die vom Es ausgehenden, durch die Stärke ihm selbst gefährlichen Aggressionslüste als böse Intentionen in die Außenwelt und erreicht es dadurch, sie als Reaktion auf solches Äußere loszuwerden, sei es in der Phantasie durch die Identifikation mit dem angeblichen Bösewicht, sei es in der Wirklichkeit durch angebliche Notwehr." (DA 201)

Die pathische Projektion ist ein wesentlicher Bestandteil der Theorie einer Dialektik der Zivilisation, die in sich barbarisiert ist. Das zivilisatorische Projekt ist die Loslösung und Beherrschung von Natur im Menschen und außerhalb seiner. Die Hingabe an Natur, an Triebimpulse, der Rückfall in das, was als Tierzustand verstanden wird, wird tabuisiert und gehaßt, weil er die notwendige zivilisatorische Disziplin gefährdet. "Die verhaßte übermächtige Lockung, in die Natur zurückzufallen, ganz auszurotten, das ist die Grausamkeit, die der mißlungenen Zivilisation entspringt, Barbarei, die andere Seite der Kultur." (DA 119)

Wenn das Individuum nicht in der Lage ist, die eigenen Triebe zu unterdrücken, steigt seine Anspannung und wächst seine Wut auf diejenigen, die für ihn das freie Ausleben des Triebes symbolisieren. Es nennt diejenigen Schweine, "deren Trieb auf andere Lust sich besinnt als die von der Gesellschaft für ihre Zwecke sanktionierte." (DA 78)

Der Zwang zur Monogamie und die Tabuisierung freier Sexualität in der abendländisch-christlichen Tradition zum Beispiel führt zur Verachtung des "Tierischen" bei Tieren und Menschen, da es für ungehemmtes Sexualleben steht: "das als widerwärtig verfemte Tier, das an Promiskuität gemahnt, zieht die Zerstörungslust der Zivilisierten auf sich, die den schmerzlichen Prozeß der Zivilisation nie ganz vollziehen konnten. Denen, die Natur krampfhaft beherrschen, spiegelt die gequälte aufreizend den Schein von ohnmächtigem Glück wider. Der Gedanke an Glück ohne Macht ist unerträglich, weil es überhaupt erst Glück wäre." (DA 181)

"Der Schwache überhaupt [erregt] die Todfeindschaft des oberflächlich zivilisierten Starken" (DA 119) Physiologisch, biologisch, national, sozial unterlegene Bevölkerungsgruppen allgemein repräsentieren für die "höher Zivilisierten" eine Nähe zur Natur, ein Leben ohne Verdrängung. Deshalb müssen sie verdrängt werden. "Sie leben, obgleich man sie beseitigen könnte, und ihre Angst und Schwäche, ihre größere Affinität (Wesensverwandtschaft) zur Natur durch perennierenden (beständigen) Druck, ist ihr Lebenselement. Das reizt den Starken, der die Stärke mit der angespannten Distanzierung zur Natur bezahlt und ewig sich die Angst verbieten muß, zu blinder Wut." (DA 120)

In ihrer Steigerung wird diese Wut zum Vernichtungswillen, und der Verdrängende "identifiziert sich mit Natur, indem er den Schrei, den er selbst nicht ausstoßen darf, in seinen Opfern tausendfach erzeugt. [...] Was unten liegt, zieht den Angriff auf sich: Erniedrigung anzutun macht dort die größte Freude, wo schon Unglück getroffen hat. Je weniger Gefahr für den oben, desto ungestörter die Lust an der Qual, die ihm nun zu Diensten steht: erst an der ausweglosen Verzweiflung des Opfers wird Herrschaft zum Spaß und triumphiert im Widerruf ihres eigenen Prinzips, der Disziplin." (ebd.)

Für die faschistischen Mörder sind ihre Opfer ihnen moralisch weit unterlegen, sie sind keine Menschen oder gehören zur "Gegenrasse", in jedem Fall nicht zu ihresgleichen. In Wahrheit projizieren sie in ihre Opfer ihr eigenes Spiegelbild, das Nicht-Menschliche eines Gewalttäters. Adorno drückt dies in seinem Aphorismus Menschen sehen dich an aus.

"Die Entrüstung über begangene Grausamkeiten wird um so geringer, je unähnlicher die Betroffenen den normalen Lesern sind, je brunetter, ‚schmutziger‘, dagohafter. Das besagt über die Greuel selbst nicht weniger als über die Betrachter. Vielleicht ist der gesellschaftliche Schematismus bei der Wahrnehmung bei den Antisemiten so geartet, daß sie die Juden überhaupt nicht als Menschen sehen. Die stets wieder begegnende Aussage, Wilde, Schwarze, Japaner glichen Tieren, etwa Affen, enthält bereits den Schlüssel zum Pogrom. Über dessen Möglichkeit wird entschieden in dem Augenblick, in dem das Auge eines tödlich verwundeten Tiers den Menschen trifft. Der Trotz, mit dem er dieses Bild von sich schiebt – ‚es ist ja bloß ein Tier‘ -, wiederholt sich unaufhaltsam in den Grausamkeiten an Menschen, in denen die Täter das ‚Nur ein Tier‘ immer wieder sich bestätigen müssen, weil sie es schon am Tier nie ganz glauben konnten. In der repressiven Gesellschaft ist der Begriff des Menschen selber eine Parodie der Ebenbildlichkeit. Es liegt im Mechanismus der ‚pathischen Projektion‘, daß die Gewalthaber als Menschen nur ihr eigenes Spiegelbild wahrnehmen, anstatt das Menschliche gerade als das Verschiedene zurückzuspiegeln. Der Mord ist dann der Versuch, den Wahnsinn solcher falschen Wahrnehmung durch größeren Wahnsinn immer wieder in Vernunft zu verstellen: was nicht als Mensch gesehen wurde und doch Mensch ist, wird zum Ding gemacht, damit es durch keine Regung den manischen Blick mehr widerlegen kann." (MM 118f.)

Horkheimer beschreibt in einer Notiz mit dem Titel Zum Wesen des Menschen die pathische Projektion noch in einem anderen Zusammenhang, als ungehemmtes Ausleben des verdrängten Vor-Zivilisatorischen in der wütenden Jagd nach dem Wolf, der sich illegal die Tiere des Bauern einverleibt, und gleichzeitig als Verurteilung und Bestrafung des Wolfes für eine Praxis, die man selber vollzieht und um deren Grausamkeit man unbewusst weiß:

"Der Blutdurst der Bauern und sonstiger Helfershelfer, wenn ein Wolf oder ein Berglöwe sich nächtlich ein Schaf holt, verrät die schlecht überwundene Gier nach rohem Fleisch - nach Zerfleischen und Überfall. Indem man den tierischen Räuber zur ‘Bestie’ stempelt, schlägt man draußen mit abgefeimter Brutalität, was man drinnen in sich selbst nicht ausrotten kann, das Vor-Zivilisatorische. Es kommt darüber hinaus in dem bestialischen Haß gegen den Wolf aber noch weiter zum Ausdruck, daß man den eigenen Fraß, dem die Schafe ausschließlich vorbehalten bleiben sollen, insgeheim als die grauenvolle Praxis empfindet, die sie wirklich ist. Die Züchter von Haustieren erfahren im täglichen Umgang mit ihnen etwas von deren Individualität und ihrem vertrauendem Leben. Der eigene Widerwille gegen den Mord am Beschützten, gegen den Verkauf an den Schlachter, ist in die untersten seelischen Schichten verstoßen und steigt in der Wut gegen den illegalen Fresser, der soviel harmloser ist als der verräterische Hirte selbst, mit blutunterlaufenen Augen herauf. Im Mord am Wolf bringt man das eigene Gewissen zum Schweigen. Die Gelegenheit ist günstig: man kommt sich dabei auch noch als Beschützer vor - und ist es auch in diesem Augenblick. Der Schutz ist zugleich Totschlag - qui saurait y remédier! -, nur die blutunterlaufenen Augen verraten, daß noch mehr im Spiel ist als die Dialektik der Zivilisation." (NDÄ 33)

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3. Allgemeine Reflexionen zu Gemeinsamkeiten und Unterschieden von Mensch und Tier

An verschiedenen Stellen ihrer Werke schreiben Adorno und Horkheimer in allgemeiner Form über das, was Menschen und Tiere verbindet bzw. unterscheidet. Horkheimer schreibt, die Züge, die wir am Menschen "menschlich" nennen, teilten wir mit den Tieren, während das "Unmenschliche" viel eher etwas Menschenspezifisches sei. "Die menschlichen Züge teilt der Mensch mit den Tieren, besonders den Herdentieren. Freude, Trauer, Sehnsucht, alles Unmittelbare. Was er für sich allein hat, die bewußte Planung, die Fähigkeit zur Abstraktion und zu flexibler Verfolgung seiner Ziele hängt weit mehr mit dem Unmenschlichen zusammen als mit dem, warum er liebenswert ist. Der Haß gehört ihm denn auch ausschließlich zu." (MHGS 14, Notiz "Mensch und Tier") In der Tierseele seien "die einzelnen Gefühle und Bedürftigkeiten des Menschen, ja die Elemente des Geistes angelegt ohne den Halt, den nur organisierende Vernunft verleiht" (DA 263f.). Die besonderen Fähigkeiten des Menschen sind demnach etwas, was ihn zusätzlich prägt, nicht etwas, was ihn grundsätzlich vom Tier unterscheidet. "Die größeren Gaben des Menschen, vor allem die Vernunft, heben die Gemeinschaft, die er mit den Tieren fühlt, durchaus nicht auf. Die Züge des Menschen haben zwar eine besondere Prägung, aber die Verwandtschaft seines Glücks und Elends mit dem Leben der Tiere ist offenbar." (MuM 136). Besonders deutlich werde die Gemeinsamkeit von Menschen und Tieren in der Erfahrbarkeit von Schmerz. "Im Schmerz wird alles eingeebnet, jeder wird jedem gleich, Mensch und Mensch, Mensch und Tier. Der Schmerz saugt das ganze Leben des Wesens auf, das er ergriffen hat: sie sind nichts mehr als Hüllen von Schmerz." (VuS 298) Dieser Tatbestand ist von besonderer Bedeutung für die kritisch-theoretische Konstruktion einer negativen Moralphilosophie.

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4. Die negative Moralphilosophie der kritischen Theorie

4.1 Der materialistische Ansatz der kritischen Theorie

Die kritische Theorie ist eine geschichtlich-materialistische, d.h. sie beleuchtet die Auswirkung von materiellen Verhältnissen, d.h. des gesellschaftlichen und stofflichen Seins in ihrer Struktur und geschichtlichen Entwicklung auf das Bewußtsein.

Die kritische Theorie lehnt sich an an die Marxsche historisch-materialistische Analyse der politischen Ökonomie. In dieser bildet die Kritik der Warenform und der Ausbeutung der Arbeit den Schwerpunkt der Analyse. Materie erscheint dort in erster Linie als Naturstoff unter dem Gesichtspunkt seiner Bearbeitung/Nutzbarmachung durch den Menschen bzw. als Gesamtheit der ökonomischen Struktur in ihrer geschichtlich-gesellschaftlichen Dynamik. Lediglich die Ausbeutung des Menschen wird dabei kritisiert, Naturbeherrschung als durchweg zu bejahendes Mittel zur Verwirklichung des "Vereins freier Menschen" aufgefaßt. In der kritischen Theorie wird die Kritik erweitert um die der Naturbeherrschung selbst und Materie steht hier nicht nur für den Naturstoff als Ursprung und Bedingung für den menschlichen Geist, sondern wird unter dem Aspekt der Objektivierung für Herrschaftszwecke betrachtet; in der Kritik der Herrschaft steht er schwerpunktmäßig für das lebendige, empfindungsfähige Fleisch von Tieren und Menschen. "Das leibhafte Moment meldet der Erkenntnis an, das Leiden nicht sein, daß es anders werden solle. ‘Weh spricht: vergeh.’ (I) Darum konvergiert das spezifisch Materialistische mit dem Kritischen, mit gesellschaftlich verändernder Praxis." (ND 203)

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4.1.1 Moral gesellschaftlich

Die Frage nach der Moral ist die nach der Versöhnung von Allgemeinem und Besonderem, nach dem richtigen "Verhältnis des einzelnen Individuums zu dem Allgemeinen" (PM 23), danach, "wie die individuellen Interessen und Glückansprüche mit irgendwelchen objektiven, für die Gattung verbindlichen Normen in Übereinstimmung zu bringen seien" (PM 27).

Die bürgerliche Gesellschaft beabsichtigte diese Versöhnung von Individuum und Gesellschaft mittels ihres Ideals von "Freiheit, Gleichheit und Gerechtigkeit". Die materialistische Kritik der politischen Ökonomie habe ergeben, "daß die Verwirklichung des Ideals, mit dem die gegenwärtige [bürgerliche] Gesellschaft ins Leben getreten ist, eben die Vereinigung von besonderem und allgemeinem Interesse, nur dadurch erfolgen kann, daß ihre eigenen Bestimmungen aufgehoben werden" (MuM 137) Die kritische Theorie erweitert diese Kritik, indem sie den der bürgerlichen Ideologie wie auch ihrer marxistischen Kritik innewohnenden Anthropozentrismus problematisiert. Sie stellen die Vorstellung der Inthronisierung der reinen naturbeherrschenden Vernunft zum Wohle der menschlichen Gattung (statt nur zum Wohle ökonomisch Mächtiger wie bisher) als neues Leitbild in Frage, da auch solche Vernunft sich auf den Zweck der Selbsterhaltung beschränkt und damit instrumentell bleibt. "Es ist aber äußerst fragwürdig, ob man dieses unterdrückende, partikulare, auf die Selbsterhaltung der Gattung abzielende Prinzip nun als das einer objektiven moralischen Vernunft überhaupt ohne weiteres setzen kann. [...] Wenn man sich so etwas wie die Institutionalisierung der Vernunft als des obersten Prinzips der Menschheit ausmalt, dann hätte man wahrscheinlich doch viel eher sich vorzustellen, daß in ihr dieses herrschaftliche Prinzip: so muß es sein, so muß es zugerichtet werden, kontrolliert werden, organisiert werden, aufhört und sich löst, als daß es sich ad calendas graecas perpetuiert (ständig weiter fortsetzt) und dann am Schluß im Namen des Moralischen die Gesellschaft selbst als eine unermeßliche Aktiengesellschaft zur Ausbeutung der Natur sich etabliert. Das scheint mir eigentlich das Tiefste zu sein, was gegen den Versuch spricht, die subjektive Klugheit der Selbsterhaltung mit dem obersten allgemeinen sittlichen Prinzip gleichzusetzen." (PM 215f.)

Da in einer herrschaftlich-warenförmig organisierten Gesellschaft die Bedingungen, nach denen sie funktioniert, zwar von Menschen geschaffen sind und sich von Menschen ändern ließen, aber als natürlich und notwendig erscheinen, ist für eine Moralphilosophie die Reflexion des gesellschaftlichen Bannes erforderlich; Moral ohne Systemkritik, ohne Rekurs auf den "gesellschaftlichen Verblendungszusammenhang" (DA 48), ist unmoralisch, da sie ihn nicht hinterfragt. Die Form, in der gesellschaftlichen Verhältnisse den Menschen als Naturschicksal entgegentreten, drückt ihre gesellschaftliche Verflochtenheit aus; "[...] in zweiter Natur, in der universalen Abhängigkeit, in der wir stehen, gibt es keine Freiheit; und es gibt darum in der verwalteten Welt auch keine Ethik; und deshalb ist die Voraussetzung der Ethik die Kritik an der verwalteten Welt." (PM 261)

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4.1.2 Moral geschichtlich

Von zentraler Bedeutung für die kritische Theorie der Moral ist deren geschichtliche Entwicklung. Horkheimer führt in seinem Aufsatz Materialismus und Moral von 1933 aus, Moral als selbständige Entscheidung über gut und böse sei erst eine späte geschichtliche Erscheinung, der Charakter früherer Subjekte viel zwanghafter gewesen. Und seitdem eine gewisse Entscheidungsfreiheit weiter verbreitet ist, zielt Moral auf die"Versöhnung vom allgemeinem und besonderem Interesse" eher insofern ab, daß sie als Mittel dient, den Massen eine von ihren Lebensinteressen abweichende Handlung abzuverlangen. Moral ist in dieser Hinsicht also Herrschaftsinstrument im Dienste der bestehenden Ordnung.

Der Materialismus versuche, die geschichtliche Entwicklung und die Beziehung der gesellschaftlichen Klassen berücksichtigend, "die wirklichen Verhältnisse aufzuzeigen, aus denen das moralische Problem hervorgeht, und die sich, wenn auch in verzerrter Weise, in den moralphilosophischen Lehren spiegeln." (MuM 118) Ob eine Grausamkeit gesellschaftlich verurteilt wird oder institutionalisiert bleibt/wird, hängt davon ab, inwieweit sie für den ökonomischen Fortschritt einer Gesellschaft notwendig ist. Sie wird dann nicht moralisch als verwerflich betrachtet, sondern im Gegenteil moralisch gerechtfertigt. Das ist das Prinzip, nach dem seit je Ideologie funktioniert. Antike "Kulturleistungen wie Häuser, Tempel, Pyramiden, Straßen, Wasserleitungen und sonstige Baumonumente verlangen den Transport schwerer und schwer zu handhabender Rohstoffe." (ZuS 202) Dies war weder durch Zugtiere noch durch freiwillige Arbeit von Menschen möglich, also mußten Sklaven her. "Die Rechtfertigung der Sklaverei, mag sie das brutale Gesicht der aristotelischen Philosophie oder die erhabenen Züge religiöser Lehren annehmen, ist nichts anderes als der ideologische Schein, mit dem eine ökonomisch notwendige, gesellschaftlich allerdings furchtbare Einrichtung verklärt wird." (ZuS 207) "Die philosophischen Begriffe, mit denen Platon und Aristoteles die Welt darstellten, erhoben durch den Anspruch auf allgemeine Geltung die durch sie begründeten Verhältnisse zum Rang der wahren Wirklichkeit. Sie stammten [...] vom Marktplatz von Athen; sie spiegelten mit derselben Reinheit die Gesetze der Physik, die Gleichheit der Vollbürger und die Inferiorität von Weibern, Kindern, Sklaven wider." (DA 28) Die Entwicklung der Produktivkräfte und die mit ihr verbundene Produktionsverhältnisse bestimmen also wesentlich die jeweilige gesellschaftliche moralische Gesinnung mit. "Die unterste tragende Grundlage des menschlichen Lebens sind die Produktivkräfte, d.h. dasjenige Stück inner- und außermenschlicher Natur, das die Menschen zu beherrschen verstehen. Zu ihr gehören auch die Tiere." (ZuS 208) Die moralische Abwertung von Tieren ist geschichtlich also sicherlich in nicht geringem Ausmaß auf die Notwendigkeit, sich ihre Arbeitskraft anzueignen, sowie auf ihre Eßbarkeit zurückzuführen. In der Regel haben die Menschen mehr Mitgefühl mit Haustieren als mit Nutztieren. Inwieweit die Produktivkraftentwicklung mit der Möglichkeit einer Entwicklung einer Moral gegenüber Tieren zusammenhängt, soll in Punkt 4.3 weiter erörtert werden.

Den Zusammenhang von Herrschaft und Moral reflektierend, gilt die Kritik der kritischen Theorie nicht der Moral an sich, sondern ihrer ideologischen Verknüpfung mit gesellschaftlicher Herrschaft. "Die Moral wird vom Materialismus [...]keineswegs als bloße Ideologie im Sinne falschen Bewußtseins verworfen. Sie gilt als menschliche Erscheinung, die während der Dauer des bürgerlichen Zeitalters gar nicht zu überwinden ist." (DA 119) Moralgeschichtlich ist die Hervorhebung der Tugendhaftigkeit von kühler Vernunft und Nüchternheit und die Abwertung des Mitleids bezeichnend für die Verflechtung der Moral mit Herrschaft. Daher ist es bedeutsam, auf diesen Aspekt näher einzugehen.

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4.1.2.1 Mitleid in der (Moral-)Geschichte

In der patriarchal geprägten abendländischen Vernunftphilosophie ist das Mitleid, als ein primär affektbestimmtes Phänomen, meist nicht in die Grundlegung der Moral einbezogen worden. Die "patriarchal zweckvolle Härte" des bürgerlichen Subjekts duldet kein Mitleid. Mitleid ist Schwäche, gefährdet die Tugend. Bürgerlich-patriarchale Tugend besteht seit je in der Tüchtigkeit. In der Moralgeschichte ist Mitleid zwar "Menschlichkeit in unmittelbarer Gestalt, aber zugleich ‚mala et inutilis‘ (schlecht und unnütz - Spinoza), nämlich als das Gegenteil der männlichen Tüchtigkeit, die von der römischen virtus (männliche Tapferkeit, Tüchtigkeit) über die Medicis (II) bis zur efficiency (Wirtschaftlichkeit, Leistungsfähigkeit) unter den Fords stets die einzig wahre bürgerliche Tugend war." (DA 109) "Bürgerliche Kälte" ist das "Widerspiel des Mitleids" (DA 110); Mitleid ist weibisch, "die Sünde schlechthin" (DA 109). "Vom Weibe stammen die ‘Ausbrüche von unbegrenztem Mitleid’ [Nietzsche]" (ebd.) "Mitleid ist anrüchig. [...] ‘[...] Sie ist staatsgefährlich, nimmt die nötige Härte und Straffheit, macht, daß Heroen sich gebärden wie heulende Weiber usw.’ [Nietzsche]" (DA 110)

Dagegen bestimmten Adorno und Horkheimer Mitleid als das "nach der Formalisierung der Vernunft" einzige, daß "als das sinnliche Bewußtsein der Identität von Allgemeinem und Besonderem, als die naturalisierte Vermittlung, noch übrig war" (DA 108f.). Weil das Mitleid als Identifizierung mit dem Leid anderer die Perspektive des Universellen und Individuellen, Allgemeinen und Besonderen in sich vereinigt, vermag nur es und nicht die reine, formalisierte Vernunft, die Grundlage für Moral zu bilden.

Allerdings ist Mitleid in ihrer Abspaltung von Vernunft keine Alternative zu dieser. Vernunft ohne Mitleid bedeutet instrumentelle Vernunft und bürgerliche Kälte; Mitleid ohne Vernunft jedoch führt in konkreten Situationen eventuell zu individueller Hilfeleistung, kratzt aber nicht an den Ursachen des gesellschaftlichen Unrechts – also an Arbeits-, Tausch- und Herrschaftsverhältnisse -, auf deren Beseitigung es ankommt und die mittels Vernunft umfassend analysiert werden müssen, um ihnen den Schein des naturhaften Schicksals zu nehmen und ihre Dynamik und Struktur in ihrer ganzen Tragweite zu erfassen. Nicht die "Weichheit sondern das Beschränkende am Mitleid macht es fragwürdig, es ist immer zu wenig." (DA 110); "Indem Mitleid die Aufhebung des Unrechts der Nächstenliebe in ihrer Zufälligkeit vorbehält, nimmt es das Gesetz der universalen Entfremdung, die es mildern möchte, als unabänderlich hin." (ebd.)

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4.1.2.2 Schopenhauer und seine Bedeutung für die kritische Theorie

Schopenhauer war der erste Philosoph, der Mitleid zum Fundament der Moral erklärte. Das Mitleid sei die wahre moralische Grundtriebfeder der Moral. Er verstand es als "ganz unmittelbare [...] Teilnahme [...] am Leiden eines anderen", wobei "das Leiden eines anderen unmittelbar mein Motiv [wird]" (GM 740). Mitleid ist bei Schopenhauer keine bloß subjektive Güte, sondern intuitives Wissen vom Empfinden anderer. Es bedeutet die Verneinung des destruktiven ‚Willens‘ und des aufhebbaren Leidens. Schopenhauers Fundierung der Moral auf das Mitleid geht einher mit seiner Einbeziehung der Tiere in die Ethik: "[...]grenzenloses Mitleid mit allen lebenden Wesen ist der festeste und sicherste Bürge für das sittliche Wohlverhalten und bedarf keiner Kasuistik. [...] Die von mir aufgestellte moralische Triebfeder bewährt sich als die echte ferner dadurch, daß sie auch die Tiere in ihren Schutz nimmt, für welche in den andern europäischen Moralsystemen so unverantwortlich schlecht gesorgt ist" (GM 770/773). Diesen Tatbestand stellt Horkheimer als dessen Verdienst dar:

"Die Solidarität der Menschen ist [...] ein Teil der Solidarität des Lebens überhaupt. Der Fortschritt in der Verwirklichung jener wird auch den Sinn für diese stärken. Die Tiere bedürfen des Menschen. Es ist die Ehre der Schopenhauerschen Philosophie, daß sie die Einheit von uns und ihnen ganz ins Licht gerückt hat. Die größeren Gaben, vor allem die Vernunft, heben die Gemeinschaft, die er mit den Tieren fühlt, durchaus nicht auf. Die Züge des Menschen haben zwar eine besondere Prägung, aber die Verwandtschaft seines Glücks und Elends mit dem Leben der Tiere ist offenbar." (MuM 136)

Auch Adorno rekurriert in diesem Sinne positiv auf Schopenhauer:

"Schopenhauer hat seinerzeit es als das besondere Verdienst seiner Moralphilosophie angesprochen, daß in ihr auch das Verhalten zu den Tieren inbegriffen ist, das Mitleid gegenüber den Tieren, und man hat das oft so als eine Schrulle des Privatiers behandelt. Ich glaube, daß sich an solchen exzentrischen Zügen gerade ungeheuer viel erkennen läßt. Das heißt, der Schopenhauer hatte wahrscheinlich den Verdacht, daß die Etablierung der totalen Vernunft als des obersten objektiven Prinzips der Menschen eben damit jene blinde Herrschaft über die Natur fortsetzen könnte, die in der Tradition der Ausbeutung und der Quälerei an Tieren ihren allersinnfälligsten und faßlichsten Ausdruck hat. Er hat damit sozusagen den wunden Punkt des Übergangs der subjektiven selbsterhaltenden Vernunft in das oberste moralische Prinzip bezeichnet, welches für die Tiere und das Verhalten zu Tieren keinen Raum läßt. Und insofern ist gerade diese Exzentrizität von Schopenhauer Zeichen einer sehr großen Einsicht." (PM 215)

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4.2 Das Verhältnis von Rationalität und Gefühl in traditioneller und kritischer Moral

Aufgrund des bereits hervorgehobenen Charakters der Vernunft als Instrument der herrschaftlichen Selbsterhaltung ist Moral nicht allein mittels Vernunft begründbar. "Alle Versuche, die Moral [...] auf irdische Klugheit zu begründen, beruhen auf harmonistischen Illusionen. Vorerst fallen sie und die Klugheit in den meisten Fällen auseinander." (MuM 133) Die "Unmöglichkeit, aus der Vernunft ein grundsätzliches Argument gegen den Mord vorzubringen" (DA 127), gilt es festzustellen und zu reflektieren. "Soweit Verstand, der am Richtmaß der Selbsterhaltung groß wurde, ein Gesetz des Lebens wahrnimmt, ist es das des Stärkeren." (DA 106)

Daher insistieren Horkheimer und Adorno auf die Nicht-Rationalisierbarkeit der Moral. Nach Horkheimer stellt sie ein psychisches Phänomen dar, das sich kulturell und über den Generationenwechsel vermittelt: "Sie ist keiner Begründung fähig – weder durch Intuition noch durch Argumente. Vielmehr stellt sie eine psychische Verfassung dar. Diese zu beschreiben, in ihren persönlichen Bedingungen und Mechanismen der Fortpflanzung von einer Generation zur anderen verständlich zu machen, ist Sache der Psychologie." Nicht aus der Vernunft (in ihrer instrumentellen, naturhaften Form) ist ein Ausbrechen aus dem Kreislauf der Naturgeschichte zu erwarten, sondern aus dem "unvernünftigen" Impuls der Rücksichtnahme und Hilfeleistung. Diesen Impuls nennt Horkheimer "moralisches Gefühl", Adorno den "moralischen Impuls" Auf beide Begriffe soll im Folgenden kurz eingegangen werden.

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4.2.1 Das moralische Gefühl bei Horkheimer

Kennzeichnend für das "moralische Gefühl" ist für Horkheimer "ein Interesse, das vom ‚natürlichen Gesetz‘ abweicht und nichts mit privater Aneignung und Besitz zu tun hat" (MuM 133) Das moralische Gefühl habe etwas mit Liebe zu tun, aber diese Liebe betreffe nicht die Person als Mittel. Sie sei unmittelbar verbunden mit Richtung auf ein zukünftiges glückliches Leben, welches sich aus der Not der Gegenwart ergebe. Dieses Ziel des glücklichen Lebens bezieht Horkheimer ausdrücklich auf Menschen und Tiere gemeinsam "Es erscheint ihr [der Liebe bzw. dem moralischen Gefühl], als hätten die lebenden Wesen einen Anspruch auf Glück, und sie fragt nicht im geringsten nach einer Rechtfertigung oder Begründung dafür. [...] Die größeren Gaben des Menschen, vor allem die Vernunft, heben die Gemeinschaft, die er mit den Tieren fühlt, durchaus nicht auf. Die Züge des Menschen haben zwar eine besondere Prägung, doch die Verwandtschaft seines Glücks und Elends mit dem Leben der Tiere ist offenbar" (MuM 134ff.)

Das moralische Gefühl existiert zwar bei vielen Menschen, aber es krankt meistens daran, daß es sich zwar bei unvorhergesehenen, nicht alltäglichen Katastrophen und Greueltaten in konkreter Hilfeleistung ausdrückt, nicht jedoch "angesichts des schreienden Unrechts, das um reiner Eigentumsinteressen willen, also im Sinne des ‚natürlichen Gesetzes‘ [...] sich vollzieht" (MuM 143)

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4.2.2 Der moralische Impuls bei Adorno

Adorno führt den Begriff des leibhaften Impulses ein, der sich vermittelt aus der Dialektik von Geist und Natur. Diese seien weder wie in der cartesianischen Philosophie dualistisch getrennt, noch ineinander aufzulösen. "Geist ist auf Dasein so wenig zu nivellieren wie dieses auf ihn. Doch das nicht seiende Moment am Geist ist so ineinander mit dem Dasein, daß es säuberlich herausklauben soviel wäre wie es vergegenständlichen und fälschen. Die Kontroverse über die Priorität von Geist und Körper verfährt vordialektisch. Sie schleppt die Frage nach dem Ersten weiter. [...] Beides, Körper und Geist, sind Abstraktionen von ihrer Erfahrung, ihre radikale Differenz ein Gesetztes. Sie reflektiert das historisch gewonnene ‚Selbstbewußtsein‘ des Geistes und seine Lossage von dem, was er um der eigenen Identität willen negiert." (ND 202)

In der Dimension von Lust und Unlust rage Körperliches ins Bewußtsein hinein. Durch ihre körperliche Vermittlung stellten sie Objektivität dar. Schmerz und Negativität sei die Gestalt von Physischem, als Objektivem, und Glück ziele auf sinnliche Erfüllung ab und gewinne dadurch seine Objektivität. Der Ausdruck des Leidens sei daher Bedingung von Wahrheit als Ausdruck von Objektivität. "Das Bedürfnis, Leiden beredt werden zu lassen, ist Bedingung aller Wahrheit. Denn Leiden ist Objektivität, die auf dem Subjekt lastet; was es als sein Subjektives erfährt, sein Ausdruck, ist objektiv vermittelt" (ND 29);

Das Geistige entspringt zwar einerseits dem Drang nach Selbsterhaltung, einmal aus der Natur hervorgetreten, bietet es jedoch zugleich die Möglichkeit der Selbstbesinnung. Indem es Leid ausdrücken und über Ursachen reflektieren kann, bietet es die potentielle Möglichkeit seiner Abschaffung. "Alles Geistige ist modifiziert (abgewandelter) leibhafter Impuls, und solche Modifikation der qualitative Umschlag in das, was nicht bloß ist. [...] Der Impuls, intramental (innergeistig) und somatisch (körperlich) in eins, treibt über die Bewußtseinssphäre hinaus, der er doch auch angehört. Mit ihm reicht Freiheit in die Erfahrung hinein; das beseelt ihren Begriff als den eines Standes, der so wenig blinde Natur wäre wie unterdrückte. Ihr Phantasma (Trugbild), das Vernunft von keinem Beweis kausaler Interdependenz (gegenseitig ursächlicher Abhängigkeit) sich verkümmern läßt, ist das einer Versöhnung von Geist und Natur." (ND 228)

Der Impuls drückt sich als moralischer aus in konkretem Mitgefühl/konkreter Solidarität bei konkret wahrgenommenen Unrecht. Er lasse sich nicht rationalisieren, nicht durch die Aufstellung von Prinzipien oder Handlungsanweisungen vermitteln. "Kritik an der Moral gilt der Übertragung von Konsequenzlogik aufs Verhalten der Menschen; die stringente Konsequenzlogik wird dort Organ der Unfreiheit. Der Impuls, die nackte physische Angst und das Gefühl der Solidarität mit den, nach Brechts Wort, quälbaren Körpern, der dem moralischen Verhalten immanent ist, würde durchs Bestreben rücksichtsloser Rationalisierung verleugnet; das Dringlichste würde abermals kontemplativ (beschaulich), Spott auf die eigene Dringlichkeit. " (ND 281)

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4.3 Politik

Das Ziel der Politik nach Horkheimer ist das Glück des Allgemeinen. Mitleid und Politik seien die beiden Formen, in denen sich das moralische Gefühl äußere. Mitleid meine Rücksicht mit den Menschen in der Nähe, Politik mit denen in der Ferne. Mitleid und Politik sind die aufs Individuelle und Allgemeine bezogenen Gestalten des Moralischen.

Da Mitleid allein, wie oben angeführt, nicht an den Ursachen des Unrechts ansetzt, an den gesellschaftlichen Strukturen, ist seine Ergänzung um eine gesellschaftsverändernde Politik notwendig. Deshalb resümiert Adorno: "[...] was Moral heute vielleicht überhaupt noch heißen darf, das geht über an die Frage nach der Einrichtung der Welt - man könnte sagen: die Frage nach dem richtigen Leben wäre die Frage nach der richtigen Politik, wenn eine solche richtige Politik selber heute im Bereich des zu Verwirklichenden gelegen wäre." (PM 262)

Genauer formuliert ist das Ziel der Politik die "Abschaffung des Leidens, oder dessen Milderung hin bis zu einem Grad, der theoretisch nicht vorwegzunehmen, dem keine Grenze anzubefehlen ist" (ND 203). Diese Aufgabe liege nicht beim Einzelnen, sondern bei der gesamten Gattung. Da jedoch "die reale Geschichte aus dem realen Leiden gewoben ist, das keineswegs proportional mit dem Anwachsen der Mittel zu seiner Abschaffung geringer wird" (DA 46f.), verlangt "der Zweck, der allein Gesellschaft zu Gesellschaft macht, daß sie so eingerichtet werde, wie die Produktionsverhältnisse [...] unerbittlich es verhindern, und es den Produktivkräften nach hier und heute unmittelbar möglich wäre. Eine solche Einrichtung hätte ihr Telos an der Negation des physischen Leidens noch des letzten ihrer Mitglieder und der inwendigen Reflexionsformen jenes Leidens. Sie ist das Interesse aller, nachgerade einzig durch eine sich selbst und jedem Lebenden durchsichtige Solidarität zu verwirklichen." (ND 203f.)

Sowie in bestimmten geschichtlichen Entwicklungsstufen und Gesellschaftsformen mitunter die Notwendigkeit bestand/besteht, Tiere als Arbeitskraft und/oder als Nahrungsmittel zu benutzen, hat sich dieses mit fortschreitender Produktivkraftentwicklung größtenteils geändert. Innerhalb technisch fortgeschrittener Gesellschaften ist weder die Ausbeutung der tierischen Arbeitskraft noch ein Verzehr von Tieren oder Tierprodukten notwendig.

Ein Phänomen der Warenwirtschaft ist, daß einerseits zwar Tierausbeutung immer weniger "notwendig" wird (insofern sie es überhaupt in bestimmten Zeiten und Gegenden war oder ist), in dem Sinne, daß immer weniger Leute existentiell von ihr abhängig sind, es auf der anderen Seite jedoch ein wesentlicher Bestandteil der Warenform ist, daß man etwas, daß man als Ware verkaufen will zum Zeitpunkt des Tauschaktes, durch den der Wert der Ware sich erst realisiert, der Zweck der Warenproduktion sich also erfüllt, nicht die Bedingungen ansieht, unter denen eben diese Ware produziert wurde. Sie erscheint als geschichtslos. Das macht es dem Käufer einfach, von dem Prozeß abzusehen, der notwendig ist, um ein Tier erst zur Ware Fleisch umzuwandeln. Im Tauschakt "werden nichtidentische Einzelwesen und Leistungen kommensurabel (vergleichbar), identisch" (ND 149). Die Abstraktion im Tauschprinzip schließt die "Eliminierung der Natur und der Naturverhältnisse der tauschenden ‘Subjekte’ in sich,", enthalte "also nichts als eine Vergesellschaftung getrennt vom Stoffwechselprozeß der Warenbesitzer mit der Natur" (GbMA 38). Dieser "Stoffwechselprozeß der Warenbesitzer mit der Natur" nimmt im Fall der Fleischproduktion die Gestalt von Tierfabriken an, in denen lebende Tiere als Produktivkräfte zum Zwecke der Produktion von Mehrwert fungieren. Das, was sie produzieren, etwa Milch, Eier oder ihren eigenen Körper als wachsende Zellmasse stellt einen Gebrauchswert für den geldbesitzenden Gourmet dar; der Tier-(d.h. Kapital-)Besitzer tauscht die Produkte oder Teile des Tierkörpers mit diesem gegen einen von der zur Herbeiführung und Aufrechterhaltung dieser Produktion notwendigen durchschnittlichen gesellschaftlichen, abstrakt-menschlichen Arbeitszeit abhängigen Äquivalentbetrag in Geldform. Durchschnittlich gesellschaftliche Arbeitszeit meint, daß nicht die individuell für die Herstellung der Ware benötigte Arbeitszeit deren Wert bestimmt, sondern aufgrund der Konkurrenz mit anderen Anbietern die nach dem gegenwärtigen technischen Stand der Produktionsmittel im Durchschnitt notwendige. Abstrakt-menschlich meint die notwendige direkte menschliche Arbeitszeit zusammen mit der, die in den Produktionsmitteln vergegenständlicht sind (d.h. durch ihre Planung und Herstellung bereits aufgewendet wurden). Das bedeutet, daß dadurch, daß der Züchter Tiere für den Markt "produziert" bzw. produzieren läßt, ihn das kapitalistische Konkurrenzprinzip zwingt, Kosten und Zeit für die Aufzucht möglichst tief und die Ausbeute möglichst hoch zu halten, da ihn sonst andere Anbieter, die preiswerter produzieren und somit billiger verkaufen können, vom Markt verdrängen. " Die Entfesselung der Produktivkräfte, Tat des naturbeherrschenden Geists, hat Affinität zur gewalttätigen Herrschaft über Natur" (ND 301); und diese findet "in der Tradition der Ausbeutung und der Quälerei an Tieren ihren allersinnfälligsten und faßlichsten Ausdruck" (PM 215).

Daher gehört eine demwidersprechend tierrespektierende Gesellschaft zu einer Versöhnung von Geist und Natur hinzu; es sei "keine freie Gesellschaft vorstellbar, zu deren ‘regulativen Ideen der Vernunft’ nicht der gemeinsame Versuch gehörte, die Leiden, welche die Menschen den Tieren zufügen, folgerichtig zu verringern." (KuR 83) Doch aufs Tier zu achten gilt heute wie zu Zeiten Horkheimers als reaktionär: "In dieser vom Schein befreiten Welt, in der die Menschen wieder zu den klügsten Tieren wurden, die den Rest des Universums unterjochen, gilt aufs Tier zu achten nicht mehr bloß als sentimental, sondern als Verrat am Fortschritt. [...] Klar sind die Fronten geschieden; wer gegen Hearst (III) und Göring kämpft, hält es mit Pawlow und Vivisektion, wer zögert, ist Freiwild für beide Seiten. Er soll Vernunft annehmen. Die Wahl ist vorgegeben und unausweichlich. [...] Vernünftig sei das Wirkliche."; die Vernünftigen der Gesellschaft bekennen sich "zur menschlichen Gesellschaft als einem Massenracket in der Natur." (DA 270)

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4.4 Das Zusammenwirken von moralischem Impuls und Reflexion

Mimesis, als Identifikation mit dem Leiden anderer, ist für die kritische Theorie der Ursprung moralischen Handelns; das Denken ist in der Lage, den gesellschaftlichen Bann in einem gewissen Maße zu reflektieren. Mitleid und reflektierendes Denken sind daher Momente einer kritischen Selbstbesinnung innerhalb der "Naturgeschichte". Der moralische Impuls bzw. das moralische Gefühl ist die diesseits des gesellschaftlichen Bannes liegende Wurzel der kritischen Moral, die gesellschaftliche Reflexion bezweckt die Transzendenz des Bannes, sie ist die Anstrebung des dem durch Herrschaft und Warenform vermittelten Verblendungszusammenhang Jenseitigen. Was jenseits des Bannes liegt, kann nicht formuliert werden, da alles diesseitige Denken vom Bann affiziert ist. Aber mittels Hegels Werkzeug, der bestimmten Negation, läßt sich bestimmen, was man nicht will: "Utopie steckt in der bestimmten Negation dessen, was bloß ist, und das dadurch, daß es sich als ein Falsches konkretisiert, immer zugleich hinweist auf das, was sein soll." (Adorno im Gespräch mit Ernst Bloch 1964)

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4.5 Die Negativität der kritischen Theorie

Die kritische Theorie ist eine negative. "Die kritische Theorie der Gesellschaft besitzt keine Begriffe, die die Kluft zwischen dem Gegenwärtigen und seiner Zukunft überbrücken könnten; indem sie nichts verspricht und keinen Erfolg zeigt, bleibt sie negativ" (EM 268). Die Weigerung, einen positiven Begriff einer zukünftigen Gesellschaft zu entwickeln, verschuldet sich allerdings nicht mangelndem Interesse an Emanzipation, sondern ist gerade auf dieses zurückzuführen. Es gibt sich keinem Optimismus hin, wo keiner zu begründen ist, und ist skeptisch gegenüber zwanghafter Praxis, die die eigene Ohnmacht überspielen will. "Keine höhere Gestalt der Gesellschaft ist, zu dieser Stunde, konkret sichtbar: darum hat, was sich gebärdet, als wäre es zum Greifen nah, etwas Regressives." (AGS 10.2, 798) Die "fast unlösbare Aufgabe" bestehe dagegen "darin, weder von der Macht der anderen, noch von der eigenen Ohnmacht sich dumm machen zu lassen." (MM 63); "Treue zur Philosophie bedeutet, es der Angst zu verbieten, daß sie einem die Denkfähigkeit verkümmern läßt." (KiV 153)

Der Zwang zur Praxis dient nur zu oft dazu, dem Denken aus dem Weg zu gehen. Das drückt Adorno aus, indem er anspielt auf den Ausspruch Marxens, die Philosophen hätten die Welt nur verschieden interpretiert, es komme darauf an, sie zu verändern: "Philosophie, die einmal überholt schien, erhält sich am Leben, weil der Augenblick ihrer Verwirklichung versäumt ward. Das summarische Urteil, sie habe die Welt bloß interpretiert, sei durch Resignation vor der Realität verkrüppelt auch in sich, wird zum Defaitismus (Mut- und Hoffnungslosigkeit) der Vernunft, nachdem die Veränderung der Welt mißlang. [...] Der Augenblick, an dem die Kritik der Theorie hing, läßt nicht theoretisch sich prolongieren (verlängern). Praxis, auf unabsehbare Zeit vertagt, ist nicht mehr die Einspruchsinstanz gegen selbstzufriedene Spekulation, sondern meist der Vorwand, unter dem Exekutiven (Vollstreckenden) den kritischen Gedanken als eitel abzuwürgen, dessen verändernde Praxis bedürfte." (ND 15) Theorie und Praxis sind nicht zwangsweise unter einen Hut zu bringen, nicht durch bloßen Willen zu vermitteln, wenn die gesellschaftliche Situation es nicht zuläßt: "Das Ungetrennte lebt einzig in den Extremen, in der spontanen Regung, die, ungeduldig mit dem Argument, nicht dulden will, daß das Grauen weitergehe, und in dem von keinem Anbefohlenen terrorisierten theoretischen Bewußtsein, das durchschaut, warum es gleichwohl unabsehbar weitergeht." (ND 281) Im Gegensatz zu politischen Bewegungen, die durchherrscht sind von repressiven Doktrinen und Kollektivzwängen, steht Kritische Theorie für die Verwirklichung autonomer Vernunft, für unabhängiges Denken und "Unbeirrbarkeit ohne Doktrin" (DA 253). Sie liefert kein System, keine Vorbilder oder Autoritäten und verweigert sich jeder Form repressiver Kollektivität. Adorno kritisiert ausdrücklich die "Kapitulation vorm Kollektiv", die politische Bewegungen, gemeint ist in diesem Fall die 68er Studentenbewegung, kennzeichnet: "Keine durchsichtige Beziehung waltet zwischen den Interessen des Ichs und dem Kollektiv, dem es sich überantwortet. Das Ich muß sich durchstreichen, damit es der Gnadenwahl des Kollektivs teilhaftig wird. Unausdrücklich hat sich ein wenig Kantischer kategorischer Imperativ aufgerichtet: du mußt unterschreiben. Das Gefühl neuer Geborgenheit wird bezahlt mit dem Opfer autonomen Denkens." (AGS 10.2, 798)

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4.6 Das Eingedenken der Natur im Subjekt

Vernunft ist mit Natur identisch als Natur beherrschende, nicht-identisch als diese Natur reflektierende. Sie wird, "indem sie Instrument zur Versöhnung ist, zugleich mehr sein als ein Instrument" (KiV 165): Das verweist auf einen kritischen Vernunft- bzw. Aufklärungsbegriff, den Adorno und Horkheimer dem naturhaft naturbeherrschenden entgegensetzen. Er wird in den letzten Seiten des ersten Kapitels der Dialektik der Aufklärung angerissen:

"Ohne sich der Verstrickung, in der es in der Vorgeschichte befangen bleibt, entwinden zu können, reicht es [das Denken] doch hin, die Logik […], mit der es von Natur radikal sich emanzipierte, als diese Natur, unversöhnt und sich selbst entfremdet, wiederzuerkennen. Denken, in dessen Zwangsmechanismus Natur sich reflektiert und fortsetzt, reflektiert eben vermöge seiner unaufhaltsamen Konsequenz auch sich selber als ihrer selbst vergessene Natur, als Zwangsmechanismus. […] Aufklärung ist mehr als Aufklärung, Natur, die in ihrer Entfremdung vernehmbar wird."(DA 45ff.)

"In der Selbsterkenntnis des Geistes als mit sich entzweiter Natur", d.h. als Natur, die Natur beherrscht, erkennt er sich selbst als blind beherrschend und durch Herrschaft verstümmelt. Diese Reflexion, in der Geist Herrschaft zurücknimmt, ist jedoch auf den Begriff, Resultat der Naturbeherrschung, angewiesen.

"Naturverfallenheit besteht in der Naturbeherrschung, ohne die Geist nicht existiert. Durch die Bescheidung, in der dieser als Herrschaft sich bekennt und in Natur zurücknimmt, zergeht ihm der herrschaftliche Anspruch, der ihn gerade der Natur versklavt. […] Während jedoch die reale Geschichte aus dem realen Leiden gewoben ist, das keineswegs proportional mit dem Anwachsen der Mittel zu seiner Abschaffung geringer wird, ist die Erfüllung der Perspektive auf den Begriff angewiesen. Denn er distanziert nicht bloß, als Wissenschaft, die Menschen von der Natur, sondern als Selbstbesinnung eben des Denkens, das in der Form der Wissenschaft an die blinde ökonomische Tendenz gefesselt bleibt, läßt er die das Unrecht verewigende Distanz ermessen. Durch solches Eingedenken der Natur im Subjekt, in dessen Vollzug die verkannte Wahrheit aller Kultur beschlossen liegt, ist Aufklärung der Herrschaft überhaupt entgegengesetzt [...]" (ebd.)

Gemeint ist einerseits das Eingedenken (die kritische Reflexion) des naturhaften, selbsterhaltenden Moments der Vernunft sowie der Totalität der Gesellschaft als naturwüchsig naturbeherrschende, warenproduzierende und -tauschende "zweite Natur", andererseits das Eingedenken der äußeren und inneren Natur im eigenen wie im fremden Subjekt (also der äußeren Umwelt sowie des Leibes und der Psyche von Tieren und Menschen in ihrer Empfindsamkeit) als durch Herrschaft verstümmelte. Reflexion des Denkens enthüllt die "Geschichte des Denkens als Organ der Herrschaft". Indem Denken "nun im eigenen Spiegel vor sich selbst erschrickt, eröffnet es den Blick auf das, was über es hinaus liegt." (DA 126) Erst das Heraustreten des Gedankens aus dem Banne der Natur, "indem er als deren eigenes Erzittern vor ihr selbst sich bekennt" (DA 47), ermöglicht ein Heraustreten aus dem blinden Herrschaftsprinzip und der Warengesellschaft, aus dem "Fressen und Gefressenwerden" sowie dem Zur-Ware-Machen und Zur-Ware-Werden von Tieren und Menschen.

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Quellen:

DA: Adorno/Horkheimer, Dialektik der Aufklärung, Frankfurt a.M. 1988
AGS: Adorno, Gesammelte Schriften, Frankfurt a.M. 1997
ÄT: Adorno, Ästhetische Theorie, Gesammelte Schriften Band 7
MM: Adorno, Minima Moralia, Gesammelte Schriften Band 4
ND: Adorno, Negative Dialektik, Gesammelte Schriften Band 6
PM: Adorno, Probleme der Moralphilosophie, Frankfurt 1996
MHGS: Horkheimer, Gesammelte Schriften, Frankfurt a.M. 1985
EF: Horkheimer, Egoismus und Freiheitsbewegung, in: Traditionelle und kritische Theorie
KiV: Horkheimer, Zur Kritik der instrumentellen Vernunft, Frankfurt 1985
MuM: Horkheimer, Materialismus und Moral, in: Gesammelte Schriften Band 3
NDÄ: Horkheimer, Notizen 1950-1969 und Dämmerung, Frankfurt a.M. 1974
TuK: Horkheimer, Traditionelle und kritische Theorie, Frankfurt a.M. 1992
VuS: Horkheimer, Vernunft und Selbsterhaltung, in: Traditionelle und kritische Theorie
ZuS: Leo Löwenthal, Zugtier und Sklaverei in: Zeitschrift für Sozialforschung, hrsg. Von Max Horkheimer, 2. Jahrgang, Heft 2 (1933), Reprint München 1980
EM: Marcuse, Der eindimensionale Mensch, in: Schriften Band 7, Frankfurt a.M. 1989
KuR: Marcuse, Konterrevolution und Revolte, Frankfurt 1973
GM: Schopenhauer, Über die Grundlage der Moral, in: ders., Sämtliche Werke Bd. III, Frankfurt a.M. 1986
GbMA: Alfred Sohn-Rethel, Das Geld, die bare Münze des Apriori, Berlin 1990

Fußnoten:

(I) Adorno zitiert hier aus dem Nachtwandler-Lied in Nietzsches Also sprach Zarathustra; vollständig lautet es:
"O Mensch! Gib acht!
Was spricht die tiefe Mitternacht?
‘Ich schlief, ich schlief -,
Aus tiefem Traum bin ich erwacht -:
Die Welt ist tief,
Und tiefer als der Tag gedacht.
Tief ist ihr Weh -,
Lust - tiefer noch als Herzeleid:
Weh spricht: vergeh!
Doch alle Lust will Ewigkeit -,
- will tiefe, tiefe Ewigkeit!’"
(Also sprach Zarathustra I, S. 577f., Werke, Leipzig 1930)

(II) Die Medicis: Familie, die in der mittelalterlichen Republik Florenz durch Handel, Bankgeschäfte und politischen Einfluß eine führende Machtposition innehatte

(III) Begründer des größten Pressekonzerns der USA, Erfinder der Boulevardpresse