Otfried Höffe:
Ausgleichende Gerechtigkeit als Preis der Moderne
Von Susann Witt-Stahl
Seit den 70er Jahren versucht der Philosoph Otfried Höffe
mit Werken wie "Ethik und Politik" oder "Sittlich-politische Diskurse", die
praktische Philosophie als kritisch-normative Instanz für aktuelle ökonomische
und politische Entscheidungsprozesse zu etablieren. Dabei zielt das Augenmerk
des Professors, der an der Universität Tübingen lehrt, besonders auf
wissenschaftsethische Probleme, die in beängstigender Art und Weise analog
zu den rasanten technologischen Entwicklungen wuchern. Die Wissenschaften sind
nicht unmoralischer geworden, sondern moralanfälliger, lautet Höffes
hochinteressante These in seiner Studie "Moral als Preis der Moderne" von 1993:
"In erster Linie zugenommen haben nicht die Verfehlungen, sondern die Möglichkeiten,
sich zu verfehlen, signifikant gewachsen ist statt der Gewissenlosigkeit weit
mehr die moralische Fehlbarkeit." In dem Kontext des erhöhten Moralbedarfs
einer wissenschaftsgeprägten Zivilisation reflektiert der Herausgeber der
"Zeitschrift für philosophische Forschung" die zunehmende Bedeutung der
Debatte über die Mensch-Tier-Beziehung.
Höffe plädiert für eine "humanitäre Anthropozentrik", denn
diese sei überhaupt die Voraussetzung für die Entwicklung moralischer
Prinzipien. Der Philosoph betrachtet Moral quasi als natürliches Regulativ
zur Arterhaltung einer Spezies, die sich durch unbegrenztes Können gepaart
mit unbegrenztem Wollen hervorhebt. Wer überleben will, rottet nicht andere
Arten aus, ansonsten ist das eigene Überleben gefährdet. Moral als
Riegel, den die Evolution dem Homo sapiens vorgeschoben hat, um ihm den Weg
zur Selbstvernichtung zu versperren? "Nicht dass der Mensch sich in den Mittelpunkt
stellt, zeichnet ihn aus, sondern dass er fähig ist, das naturübliche
Sich-in-den-Mittelpunkt-Stellen einzuschränken, sogar aufzuheben. Ohne
diese Fähigkeit, derentwegen der Mensch denn doch einen höheren Rang
einnimmt, ohne die Moralfähigkeit, ist eine ökologische Ethik undenkbar.
Nur eine Spezies, die sich bei der Selbstbehauptung als viel stärker denn
alle anderen Spezies erweist, macht diese Ethik nötig."
Die immer lauter werdende Forderung nach einer Ethik, die den Anthropozentrismus
zurückweist, Tieren sogar Rechte zuschreibt, hält Höffe schlichtweg
für "theologische Schwärmerei". Er warnt vor dieser Entwicklung mit
der Begründung, dass man mit dem Verzicht auf den Anthropozentrismus eine
unverlierbare Errungenschaft preisgibt, nämlich das selbstverantwortliche
Person-Sein.
Der Philosoph hält auch die Einstufung der Tiere als Sachen nicht schlechthin
für abwegig, da Tiere aufgrund fehlender Eigenschaften keinen Personenstatus
erlangen könnten: Tiere besitzen weder Zurechnungsfähigkeit noch die
Fähigkeit, Rechtsbeziehungen einzugehen. Daraus folgt für Höffe,
dass Tiere weder schuldfähig sind noch - im Gegensatz zu unmündigen
Menschen - Anspruch auf uneingeschränkten Rechtsschutz haben. Er kritisiert
TierschützerInnen, die eine Gleichbehandlung von Tieren und unmündigen
Menschen fordern, indem er ihnen das kantische Potentialitätenargument
entgegenhält: "Im Unterschied zu Kindern und Geisteskranken sind Tiere
aber nicht nur vorläufig oder aufgrund außergewöhnlicher Schäden,
sondern auf irreversible Weise, als Spezies nämlich, zu einem zurechenbaren
Handeln nicht fähig."
Auch wenn Otfried Höffe die Speziesgrenzen unangetastet wissen will, so
vertritt er dennoch die Auffassung, dass Prinzipien der Gerechtigkeit auf Tiere
Anwendung finden müssen. Da der Personenstatus dem Wesen des Tieres widerspräche,
legt der Philosoph Schmerz- und Angstfähigkeit, die bei Tieren zweifellos
erwiesen sind, seinem Moralkonzept zugrunde. Menschen haben aufgrund ihrer Vernunftfähigkeit
zwar ein anderes Verhältnis zu Angst und Schmerzen als Tiere; dies bedeutet
aber nicht, dass Menschen stärker unter Schmerzen leiden. Erst durch das
Mitleid erlangt die Angst- und Schmerzfähigkeit einen moralischen Status,
der in Verbindung mit dem Gleichheitsgrundsatz in der Ethik unerwünschte
Partikularismen ausschließt: "Wer den Grundsatz anerkennt - dass Gleiches
nach Maßgabe seiner Gleichheit zu behandeln sei -, übt Mitleid nicht
nur gegen Nahestehende, sondern auch gegen Fremde, sogar gegen artfremde, gleichwohl
schmerzfähige Wesen, also auch gegen Tiere." Das Mitleid, so der Ethiker,
sei aber nur eine moralanaloge Eigenschaft, die der Vernunft vorausgeht, dem
Interesse an Selbsterhaltung oder der Unsensibilität geopfert wird und
unter den vielen Adressaten die Tiere in der Regel benachteiligt. Tiere verdienen
zwar Mitleid, haben aber nach Höffe kein Recht darauf. Da das Mitleid,
im Gegensatz zur Gerechtigkeit, eine einseitige Angelegenheit ist, fordert der
Philosoph eine Ethik, die Tieren "zumindest ansatzweise" Rechte zuschreibt und
dem Menschen für seine Auseinandersetzung mit Tieren moralische Grenzen
setzt. Was Tiere brauchen, sind "Rechte, die nicht anthropozentrisch, sondern
genuin und daher nicht unter Vorbehalt und auf Widerruf, vielmehr in einem gewissen
Sinn kategorisch gelten". Gerechtigkeit ist nicht nur unter gleichrangigen Wesen
geboten, sondern auch an eine Beziehung der Wechselseitigkeit gebunden.
Um eine tief verwurzelte Wechselseitigkeit von Mensch und Tier nachzuweisen,
legt Höffe ein besonderes Augenmerk auf die Entwicklungsstufen der Mensch-Tier-Beziehungen.
Die erste Phase der genuinen Jägerkulturen habe sich durch einen "weitgehend
gerechten Kampf" zwischen Mensch und Tier gekennzeichnet, der zwar moralfrei
gewesen sei und objektiven Gerechtigkeitskriterien nicht genügt habe, aber
durch das Naturrecht der artegoistischen Selbstbehauptung sei er legitim gewesen.
Die zweite Phase sei die Entwicklungsstufe gegenseitiger Adaption gewesen, in
der die Tiere, so Höffe, durch Domestikation Vorteile, z.B. Schutz und
Nahrung, genossen hätten, auch wenn sie letztlich von Menschen ("schmerz-
und leidensärmer" als durch die Jagd) getötet worden seien, ihre Domestikation
mit Artentfremdung und Verlust ihrer Freiheit bezahlt hätten. In
der dritten gegenwärtigen Phase bliebe zwar der "Charakter der Kooperation"
erhalten, es habe sich aber durch die Industrialisierung der Landwirtschaft
(Massentierhaltung) und den Fortschritt der wissenschaftlichen Forschung (Tierversuche)
das Verhältnis von Kosten und Nutzen zuungunsten der Tiere verschoben.
Es sei, so Höffe, eine Ungerechtigkeit entstanden. Die zunehmende Technisierung
und steigende Bedürfnisse bedrohen den Fortbestand von Tierarten, ihrer
Lebensräume etc. und fordern daher eine genuine Moral als Preis der Modernisierung,
die den Tieren einen Ausgleich nach Gerechtigkeitsprinzipien bietet.
Der Philosoph verweigert Tieren elementare Rechte auf Leben und Unversehrtheit,
mit der Begründung, dass Tiere ausschließlich gegenwartsbezogen leben,
weder Hoffnung noch Verzweiflung kennen und sich keine Vorstellung über
den Tod machen können. Auch entzieht er das Herrschaftsverhältnis
von Menschen über Tiere weitgehend einer kritischen Betrachtung; im Gegenteil:
er deutet es als Symbiose.
Otfried Höffes Tierethik reicht über ein Plädoyer für einen
traditionellen Artenschutz nicht wesentlich hinaus. Dieser erweist sich zwar
ökologisch und wirtschaftlich als nützlich, d.h. die Ausrottung von
Arten wird erschwert und Nahrungsketten werden nicht unnötig geschädigt
oder unterbrochen. Der Artenschutz stellt für Menschen eine Möglichkeit
dar, sich "natürliche Ressourcen" zu erhalten und bietet bestimmten Tieren
langfristig und indirekt Schutz. Als ethisches Konzept jedoch, das mit Gerechtigkeitskriterien
operiert - wie Gleiches nach Maßgabe des Gleichen gleich zu behandeln
– ist das Artenschutzprinzip unzulänglich. Tiere, die nicht von Ausrottung
bedroht werden, bleiben unberücksichtigt, obwohl sie ebenso leidensfähig
sind wie bedrohte. Weiterhin lässt Höffe mit der Forderung nach ausgleichender
Gerechtigkeit unter den Spezies die Tatsache unberücksichtigt, dass Arten
nicht kollektiv, sondern ausschließlich die einzelnen Individuen einer
Art leidensfähig sind. So kann nach moralischen Gesichtspunkten kein gerechter
Ausgleich geschaffen werden, wenn Menschen, wie Höffe es vorschlägt,
für den gewaltsamen Tod, den sie den einen Tieren geben, Tierreservate
für andere einrichten — Die Verletzlichkeit und Einmaligkeit jedes nichtmenschlichen
Individuums hat der Moralphilosoph schlichtweg übergangen.
Literatur:
Otfried Höffe - Moral als Preis der Moderne. Ein Versuch
über Wissenschaft, Technik und Umwelt. Frankfurt a.M. 1993.
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