„Herein mit ihnen und auf den Fleischertisch,
dann zerlegen wir sie wie Kälber!“
- zur Genealogie des Nazi-Terrors und der Industrialisierung des Tötens
Von Susann Witt-Stahl
Das Schlachten von Gänsen, Ziegen und Ochsen ist die
reinste Tortur für den jungen Rabbi Joine Meir. Die Dorfältesten haben
ihn gezwungen, Metzger zu werden. „Die ganze Welt ist ein Schlachthaus!“,
schreit Issac B. Singers Romanfigur aus „The Slaughterer“ in ihrer
grenzenlosen Not und Verzweiflung heraus und benennt damit ein Wesensmerkmal
und vorläufiges, zutiefst bedrückendes Ergebnis einiger Jahrtausende
Zivilisationsgeschichte. Der jüdische Schriftsteller lieferte auch den
provokanten Titel für die deutsche Ausgabe von Charles Pattersons Studie
„Eternal Treblinka“, über die Ursprünge des industrialisierten
Tötens.
In seiner Geschichte „The Letter Writer“ lässt Singer seinen
Protagonisten Herman Gombiner, dessen gesamte Familie von den Nazis ermordet
worden war, lapidar feststellen: „Für die Tiere ist jeden Tag Treblinka“.
Die Erkenntnis, dass die unsagbare Gefühllosigkeit, Rohheit und Gemeinheit
der Nazis allgegenwärtig, die Welt eine „bodenlose Hölle“
ist, bringt den Übersetzer eines hebräischen Verlages dazu, total
zurückgezogen in einer kleinen Wohnung in New York zu hausen. Das einzige
Wesen, mit dem er sein Leben teilt, ist eine Maus, um die er sich liebevoll
und fürsorglich kümmert. Hermans tägliche Begegnung mit dem „heiligen
Geschöpf“ namens Huldah reanimiert eine bei den meisten Menschen
im Zuge des Zivilisations- und kapitalistischen Verdinglichungsprozesses verloren
gegangene Solidarität mit allen quälbaren Körpern, das Mitgefühl
mit allem Kreatürlichen – sie gemahnt die Erinnerung an die Einmaligkeit
jedes empfindungsfähigen Lebewesens.
Wie viele Geschichten Singers dreht sich auch diese um eine Lehre des Talmuds:
„Wer ein Leben rettet, rettet die ganze Welt.“ Das war ein gewichtiger
Grund, warum Charles Patterson nicht nur dessen Biografie und Werk in einem
langen Kapitel nachzeichnet, sondern ihm auch gleich sein Buch widmet: Eine
Herrschaftskritik, die das brutale Verhältnis zwischen Mensch und Tier
als Paradigma der – zumindest vorerst – gescheiterten Zivilisation
in den Mittelpunkt stellt. Ein anderer Grund sei, so der Sozialhistoriker, dass
der 1935 ins amerikanische Exil geflohene Schriftsteller der „erste bedeutende
Autor war, der unseren ‚faschistischen’ Umgang mit Tieren aufs Korn
nimmt“. Damit meint Patterson eine „Weltanschauung, die behauptet,
manche Leben seien wertvoller als andere, die Mächtigen hätten das
Recht, die Machtlosen auszubeuten, und die Schwachen müssten zum Wohle
des größeren Ganzen geopfert werden“. Er meint eine Haltung,
die leidensfähige Individuen dem Verwertungsalltag der modernen Fabrik
ausliefert und unweigerlich und massenhaft Szenen wie die folgende – die
die Malerin Sue Coe schildert – nach sich zieht: „Zwei Arbeiter
schlagen während des Geburtsvorgangs mit einer fast zwei Meter langen Peitsche
auf die Stute ein, damit sie sich beeilt und in den Tötungsraum geht. Das
Fohlen wird in einen Eimer geworfen.“
Mit erstaunlicher Materialvielfalt belegt Patterson die enge Verflechtung zwischen
Tierausbeutung und Menschenvernichtung. In seinem geschichtlichen Abriss, der
von der Domestizierung und Versklavung der Wildtiere über die vom Rassenwahn
geleitete Tierzucht bis zur totalen Transformation einzigartiger Lebewesen zur
standardisierten Ware reicht, die auf den High-Tech-Schlachtstraßen im
Minutentakt vollzogen wird – Patterson zeigt, wie die Tierausbeutung immer
wieder Modell für die Erniedrigung und massenhafte Ermordung von Menschen
stand.
Was ein Künstler wie der Schriftsteller Singer soll und darf – um
die Menschen zu zwingen, sich ihrem selbst produzierten Grauen zu stellen –,
nämlich mit drastischen Vergleichen provozieren, mit aufrüttelnden
Metaphern und semantischen Verweisen arbeiten, an Gefühle appellieren,
sollte ein Historiker tunlichst vermeiden: Auch wenn Patterson von einer Gleichsetzung
des Holokausts an den Juden mit dem milliardenfachen Tiermord für Konsumzwecke
absieht und die Singularität der Shoah nicht explizit in Frage stellt –
er wird nicht müde, wieder und wieder die phänomenologischen „Gemeinsamkeiten“
von Auschwitz (als pars pro toto der größten Menschheitskatastrophe)
und den Tiertötungsfabriken aufzuzeigen und sie durch Aussagen von Holokaust-Überlebenden
untermauern zu lassen.
Die unzähligen NS-Dokumente und Augenzeugenberichte wie der einer Österreicherin,
die nach der Gefangennahme zweier aus dem KZ Mauthausen entflohener Häftlinge
hörte, dass die Dorfmetzgerin schrie: „Herein mit ihnen und auf den
Fleischertisch, dann zerlegen wir sie wie Kälber!“ lassen keinen
Zweifel aufkommen – die deutschen Täter und ihre europäischen
Helfer haben ihre jüdischen Opfer häufig auch wie Tiere behandelt.
Aber heißt das, Tiere werden wie Juden behandelt? Gibt es einen „Holokaust
der Tiere“?
Mit seinem Essay „Moderne und Gewalt“ liefert Enzo Traverso einen
eindringlichen Beleg, dass der Umkehrschluss falsch ist und Pattersons phänomenologische
Vergleiche historisch viel zu kurz greifen, um erkennen zu können: Es gibt
zwar Analogien zwischen den NS-Todeslagern und Schlachthöfen, das Wesen
von Auschwitz – eine Vernichtungsinstitution, die errichtet worden war,
den Willen der Nazis durchzusetzen, die „Erde nicht mehr mit dem jüdischen
Volk und einer Reihe von anderen Volksgruppen zu teilen“ – ist aber
ein anderes als das der Tierausbeutungs- und Verwertungsfabriken, die der Sozialwissenschaftler
als Bedingung der Möglichkeit des Holokausts reflektiert: „Das Schlachthaus
bezeugt jene von Alain Corbin als Übergang der ‚dionysischen Pulsionen’
der traditionellen Schlächterei zum ‚pasteurisierten Gemetzel’
der Moderne beschriebene anthropologische Mutation.“
Aber Traversos an die Zivilisationskritik der Frankfurter Schule anknüpfende
und Hannah Arendts Überlegungen zum kolonialen Imperialismus einbeziehende
Analyse zur NS-Vernichtungspraxis stellt nicht nur ein kritisches Korrektiv
und unverzichtbares Komplementärstück zu Pattersons aus dem historischen
Lot geratenen populärwissenschaftlichen Studie dar. Sie liefert eine herausragende
Rekonstruktion der materiellen Voraussetzungen der größten Menschheitsverbrechen
(die Parzellierung und Serialisierung des Tötungsvorgangs, die Entmenschlichung
des Todes, der dem Diktat der instrumentellen Vernunft unterworfen wurde) und
der Komponenten ihrer ideologischen Matrix (Klassenrassismus, Sozialdarwinismus,
ein Weltbild, das auf eugenischen Lehren beruhte und neue Vorurteile über
„den Juden“ generierte), also zwei Ebenen, die im Nationalsozialismus
zu einer einzigartigen Synthese kamen. Traverso zeigt auch, dass die amerikanische
Eugenik-Bewegung, die fordistischen Fabrik, die imperialistischen Kriege der
Westeuropäer zu der „mentalen Landschaft“ gehörten, in
der die deutschen Mörder schließlich ihre Todesfabriken errichten
konnten.
Wie Adorno sieht auch Traverso im Nationalsozialismus den Ausdruck einer Barbarei,
die „in das Prinzip der Zivilisation selbst eingeschrieben ist“,
die aber nicht zwangsläufig zum Ausbruch kommen musste und zukünftig
aus der Zivilisation verbannt werden könnte, wenn der Mensch bereit ist,
autonome Vernunft in seine Geschichte zu bringen.
Was die Studien von Patterson und Traverso verbindet, ist die Erkenntnis, dass
sich ein Festhalten an einem ungebrochenen Fortschritts- und fröhlichen
Aufklärungsoptimismus – wie er derzeit beispielsweise vom dumpfen
antideutschen Sektenwesen propagiert wird – sich nicht erst seit Auschwitz
als unerträglich ignorant erweist. Und wie Enzo Traverso die Barbarei gegen
Menschen als etwas in der industrialisierten westlichen Moderne permanent Vorwaltendes
erkennt, so erinnert uns Patterson daran, dass sie für Tiere seit mehr
als zwei Jahrhunderten tagein, tagaus blutige Realität ist.
Charles Patterson - „Für die Tiere ist
jeden Tag Treblinka.“ Über die Ursprünge des industrialisierten
Tötens. Zweitausendeins, Frankfurt a.M. 2004, 305 S., 16,90 Euro; Enzo
Traverso – Moderne und Gewalt. Eine Genealogie des Nazi-Terrors. Neuer
ISP, Köln 2003, 160 S., 15.- Euro .
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