„Und sie strampeln um ihr Leben“
Das Motiv des Schlachtens in der Literatur
Von Susann Witt-Stahl
Kaum zu glauben, dass der Mensch zu Beginn des 21. Jahrhunderts immer
noch einen Großteil seiner Nahrungsmittel durch Tierschlachtung
gewinnt. Das mittlerweile pasteurisierte, aber nach wie vor blutige Gemetzel
liefert wohl den augenfälligsten Beweis dafür, dass die Aufklärung
nicht nur Freiheit verheißt, sondern auch den Keim zum Rückschritt
enthält: Heute reagieren die meisten Menschen äußerst
empfindlich auf Tierquälerei; viele haben die Tiere längst (wieder)
als ihre leidensfähigen Verwandten erkannt. Aber die totale Verdinglichung
und industrielle Verwertung tierlicher Individuen als Massenware schreitet
– scheinbar – unaufhaltsam voran.
Mit ihrem neuesten Buch „Der Weg allen Fleisches“ über
die Tierschlachtung in der Literatur der Moderne weist Manuela Linnemann
auf die Dialektik des Zivilisationsprozesses hin. Vor allem aber zeigt
die Publizistin, dass im fortgeschrittenen Kapitalismus hauptsächlich
die Kunst die überaus wichtige Aufgabe lösen kann, „die
Evidenz des Leidens der Tiere erfahrbar zu machen“. Damit hat sie
nach „Brüder – Bestien – Automaten“, einer
Sammlung von philosophischen und theologischen Texten über das Tier
im abendländischen Denken von der Antike bis zur Gegenwart, nun schon
eine zweite Anthologie vorgelegt, die zumindest im deutschen Sprachraum
einmalig ist.
Die ältesten Texte des Bandes stammen aus der Zeit der historischen
Aufklärung. Die Sammlung wird eröffnet mit einem Auszug aus
Jean-Jacques Rousseaus „Aemil, oder Von der Erziehung“. Der
Schriftsteller, Philosoph und Pädagoge, der ebenso zu den geistigen
Wegbereitern der Französischen Revolution wie zu den bedeutendsten
Vernunftkritikern der Moderne zählt, versucht mit Hilfe eines langen
Plutarch-Zitats zu belegen, dass der Fleischgenuss keineswegs etwas Natürliches
ist, sondern eine Form der Verrohung des vergesellschafteten Menschen:
„Die englische Wildheit ist bekannt: die Gauren hingegen sind die
sanftmüthigsten Menschen. Alle Wilden sind grausam“, konstatiert
Rousseau, „und ihre Sitten treiben sie nicht dazu an; diese Grausamkeit
kömmt von ihren Speisen.“
Nun, dass der Mensch ist, was er isst, sein Sozialcharakter allein durch
die Qualität der Nahrungsmittel bestimmt wird, die er zu sich nimmt,
ist zu bezweifeln. Aber die spätkapitalistische Gesellschaft, die
jährlich viele Milliarden empfindungsfähiger Individuen für
Konsumzwecke abschlachtet, bis zur Unkenntlichkeit zerstückelt und
als standardisierte Ware in ihren gierigen Schlund stopft, droht nicht
nur jederzeit in die Barbarei zu regredieren – sie hat sich nie
davon gelöst, sondern notwendig ein falsches Bewusstsein hervor gebracht,
das ihr selbst produziertes Grauen lediglich in der Barbarei der Normalität
aufgehen und verschwinden lässt. Und so lassen wir uns von Dampfplauderern
wie Johannes B. Kerner rund um die Uhr erzählen, dass der Genuss
von blutiger Tierleichenkost wie „Gutfrieds Geflügelwurst“
etwas ganz Natürliches ist und „gute Eltern“ ihre Kinder
mit Fleischwaren ernähren. „In der Überflussgesellschaft
herrscht Diskussion im Überfluss“, schrieb Herbert Marcuse
in seiner berühmten Kritik der „Repressiven Toleranz“.
„Ferner wird bei Debatten in den Massenmedien die dumme Meinung
mit demselben Respekt behandelt wie die intelligente, der Ununterrichtete
darf ebenso lange reden wie der Unterrichtete, und Propaganda geht einher
mit Erziehung, Wahrheit mit Falschheit.“ Manuela Linnemann hat völlig
Recht, wenn sie in dem Vorwort zu ihrer Sammlung literarischer Texte sagt:
„Das Argument, der Mensch habe von Anfang an Fleisch gegessen und
deswegen schon immer Tiere getötet, ist nicht zwingend, sondern ein
naturalistischer Fehlschluss.“
Marcuse hatte an die Intellektuellen und Künstler appelliert, an
„geschichtliche Möglichkeiten, die zu utopischen geworden zu
sein scheinen, zu erinnern und sie zu bewahren“. Diese Mission erfüllen
die 43 Literaten, die in Linnemanns Band zu Wort kommen, ausnahmslos.
Die wenigsten von ihnen haben sich als große Tierfreunde oder gar
Vegetarier hervor getan. Das trifft auf Emile Zola, Bertolt Brecht, Alfred
Döblin, Wladimir Majakowskij zu, auch auf Johann Wolfgang von Goethe,
über den Adorno sagte, sein Widerwille gegen die Affen wiese auf
die Grenzen seiner Humanität. Aber gerade teilnahmslose Schilderungen
von Tierschlachtungen, die nicht selten so grausam sind, dass es Mühe
macht weiter zu lesen, überzeugen dadurch, dass sie nicht moralisieren,
das Grauen nicht weglamentieren, sondern uns dem ungefilterten Schrecklichen
aussetzen – die Kritik findet sich in der schonungslos eindringlichen
Darstellung dessen, was objektiv der Fall ist. Das gilt beispielsweise
für den jüngsten Text, mit dem Linnemann ihre Anthologie schließt,
einen Auszug aus dem Roman „Blösch“ von dem Schweizer
Schriftsteller Beat Sterchi: „Ist kein Haken in Reichweite, müssen
wir die zappelnden Tiere über den Boden schleifen. Meterweit. Und
sie strampeln um ihr Leben [...] He! He! Locher fährt Fernando an,
der mit dem Gummischlauch hart auf ein laut schreiendes Schwein einschlägt.
Nicht so! Das kannst du zu Hause machen. Die Säue hier, die brauchst
du nur einzufangen. Dass sie schweigen, dafür sorge ich dann schon.
Und nicht mit den Stiefeln treten. Verstanden!“ Sterchi sagt über
seinen Roman: „Ich wollte die verdrängten Vorgänge ‚hinter
dem hohen Zaun am Rande der schönen Stadt’ der Literatur zuführen.
Ich wollte nicht schockieren, nur festhalten, wie es ist.“ Und der
Schriftsteller weiß genau, wie es ist, denn er hat eine Metzgerlehre
absolviert.
Aus den literarischen Szenen spricht die unwiderlegbare Wahrheit: Die
alltäglichen millionenfachen Tiertötungen in den Schlachthäusern
dieser Welt sind ein gigantisches, zutiefst unmenschliches Verbrechen.
„Literatur zwingt uns zum Hinsehen, indem sie ein ‚Fenster’
in die Schlachthöfe öffnet und auch die scheinbar idyllische
Hausschlachtung als ein martialisches Geschehen beleuchtet“, schreibt
die Herausgeberin. „In der Literatur wird die vermeintliche Natürlichkeit
oder Selbstverständlichkeit des Tiertötens zu Ernährungszwecken
demaskiert.“
Die unerträgliche Anschauung der Gewalt gegen Tiere weist über
das bestehende Unrecht hinaus. Und so ist Linnemanns Anthologie nicht
nur ein eindringliches Plädoyer gegen die Barbarei des Schlachtens
und Fleischkonsums – sie ist auch ein Stück radikale Kritik
an der perfiden Ideologie der etablierten Tierschutzverbände und
Vegetarierbünde, die sich längst an der „Tyrannei der
Mehrheit“ (Marcuse) beteiligen, die Lüge vom „humanen
Tod“ des „Bio-Schweins“ verbreiten und mit ekelhaften
Neologismen wie „Teilzeitvegetarismus“ Toleranz gegenüber
der Schlachthofgesellschaft und ihrer institutionalisierten Gewalt predigen.
„Wenn Toleranz in erster Linie dem Schutz und der Erhaltung einer
repressiven Gesellschaft dient“, so Herbert Marcuse, „wenn
sie dazu herhält, die Opposition zu neutralisieren und die Menschen
gegen andere bessere Lebensformen immun zu machen, dann ist Toleranz pervertiert
worden.“ Im Spätkapitalismus, der den von Manipulation und
Konformismus geprägten eindimensionalen Menschen hervorgebracht hat,
gibt es nur zwei Orte, an denen das Subjekt zu einem subversiven, unverdinglichten
Bewusstsein gelangen kann: Der äußerste Rand der Gesellschaft
und die Kunst. Den Weg zu Letzterer weist Linnemann, indem sie sagt: „Wo
das Ausmaß der Massenschlachtungen das Vorstellungsvermögen
der Menschen längst übersteigt, wo die Mechanisierung des Schlachtens
zur Abstumpfung der Gefühle geführt hat, wo allenthalben der
Akt der Tiertötung als etwas Neutrales wahrgenommen wird, das den
Menschen nicht trifft und seine Zivilisation nicht infrage stellt, vermag
uns die Literatur mit Bildern zu konfrontieren und so an unser Mitgefühl
appellieren.“
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Manuela Linnemann (Hg.) – Der Weg allen
Fleisches. Das Motiv des Schlachtens in der Literatur. Erlangen 2006,
br., S. 150, 19,50 Euro.
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