Das Tier im abendländischen Denken - Von der Verfemung
der "Bestie" bis zur leidenschaftlichen Parteinahme für die Unterdrückten
Von Susann Witt-Stahl
Unter dem Titel "Brüder Bestien
Automaten" hat Manuela Linnemann eine Sammlung von Texten über das
Tier im abendländischen Denken vorgelegt, deren historischer Umfang, Ausführlichkeit
und Originalität bisher im deutschen Sprachraum konkurrenzlos ist.
Die Zusammenstellung philosophischer, theologischer und literarischer Beiträge,
die mit dem antiken Denker Empedokles beginnt und mit dem zeitgenössischen
Strukturalisten Jacques Derrida schließt, überzeugt vor allem dadurch,
dass sie eine Reihe unbekannter Autoren verschiedenster geistiger und motivationaler
Provenienz zu Wort kommen lässt. Die Herausgeberin Linnemann zeigt die
Heterogenität der Tierbilder, das Ausmaß der Zerrissenheit des Mensch-Tier-Verhältnisses:
Von der Verfemung der "Bestie" über traurige Allegorien für
menschliches Versagen und Ungerechtigkeiten, speziesistischen Vorurteilen vermeintlich
rationaler Denker bis hin zu romantisierenden Verklärungen, rührenden
Liebesgeständnissen und leidenschaftlicher Parteinahme für die unterdrückten
und verfolgten Lebewesen, die so wie wir und doch ganz Andere sind. Unglaublich,
was über Tiere in rund zweieinhalbtausend Jahren alles zusammengedacht
wurde: Erschreckend, erhellend, ergreifend und erheiternd zugleich.
Der Philosoph Johann Gottlieb Fichte rief 1796 in seiner Abhandlung "Grundlage
des Naturrechts" zur Bekämpfung der Wildtiere auf, da sie nicht den
"Zwecken des Menschen unterworfen werden können". Der Staat sollte
"das Wild nicht als etwas Nutzbares, sondern etwas Schädliches, nicht
als ein Emolument, sondern als einen Feind" betrachten. Die meisten Denker
jedoch, die in Linnemanns Anthologie zu Wort kommen, plädierten für
mehr Mitgefühl für die gequälte Kreatur.
Der englische Satiriker Bernard de Mandeville (1670-1733) beschrieb mit Entsetzten
das Grauen der Tierschlachtung: "Wenn ein großer kräftiger Stier,
nachdem er der zehnfachen Gewalt von Schlägen, die seinen Mörder getötet
haben würden, widerstand, schließlich betäubt hinfällt
und sein gehörnter Kopf mit Stricken am Boden befestigt wird, welcher Sterbliche
kann dann, sobald die klaffende Wunde gemacht ist und die Schlagadern durchschnitten
sind, ohne mit zu leiden, das schreckliche, von Blutströmen unterbrochene
Brüllen hören, die bitterlichen Seufzer, die ihm seine furchtbare
Angst auspresst, das dumpfe verzweifelte Stöhnen, das aus der Tiefe seines
starken, zitternden Herzens heraufdringt; dazu die krampfhaft heftigen Zuckungen
seiner Glieder bemerken und sehen, wie seine Augen, während ihm dampfendes
Blut entströmt, trübe und matt werden und er sich windet, keucht und
den letzten Todeskampf führt, der sein nahes Ende verkündet?"
Einige gar sahen in den Tieren die besseren Menschen. So der französische
Philosoph Julien Offray de La Mettrie (1709-1751), der die Menschen mahnte,
sich an der Liebenswürdigkeit und Dankbarkeit der Tiere ein Beispiel zu
nehmen. Die Belohnung: Wir bräuchten keine Kriege mehr zu fürchten,
"welche die Geisel des Menschengeschlechts und die wahren Henker des Naturgesetzes
sind".
Für viele LeserInnen erstaunlich mag sicher die Tatsache sein, dass der
Tierrechtsgedanke keineswegs erst eine Errungenschaft der sozialen Bewegungen
der Gegenwart ist, sondern schon Geisteskind der Französischen Revolution
und ihrer Gleichheitsgrundsätze war, was die Ausführungen des utilitaristischen
Philosophen Jeremy Bentham (1748-1832) eindrucksvoll belegen.
Eine Genugtuung für jeden Tierfreund sind sicherlich die Hass-Tiraden,
die die Kulturkritiker-Legende Karl Kraus 1920 einer Innsbrucker Großgrundbesitzerin
entgegenschleuderte. Die unsentimentale Dame hatte Rosa Luxemburgs mittlerweile
berühmten Brief aus dem Breslauer Gefängnis an Sonja Liebknecht, in
dem sie ihr Mitgefühl für einen von Soldaten geschundenen Büffel
geäußert hatte, auf übelste Weise verhöhnt. Maßlos
unterschätzt hatte sie dabei allerdings die Angriffslust des Wiener Grantlers.
Frei nach seiner Devise "Hass muss produktiv machen, sonst ist es gescheiter
zu lieben" faltete er die eiskalte "Blutsbesitzerin" in seinem
Kampfblatt "Die Fackel" genüsslich zusammen. Kraus verachtete
nämlich nicht nur die damals weit verbreitete "Heldentodgeilheit",
sondern auch die Rohheit und Gemeinheit, mit der die "entmenschte Brut"
den Tieren begegnete. Seine Solidaritätserklärung ist ein Triumph
für alle tierliebenden Menschen, besonders wenn man bedenkt, dass sie in
einer Zeit formuliert wurde, in der gerade eben noch Millionen von Menschen
auf den Schlachtfeldern verblutet waren.
Die Intensität und der moralische Eifer, mit dem Wissenschaft und Kunst
sich der Mensch-Tier-Beziehung während unserer gesamten Kulturgeschichte
gewidmet haben, bezeugt, dass die Interpretation der weit verbreiteten Sorge
und Mitgefühl für die leidensfähigen Lebewesen als Wohlstandsphänomen
moderner Industriegesellschaften entschieden zu kurz gegriffen ist. Der einerseits
sensible andererseits achtlose Umgang mit den rechtlosen Tieren wurde seit jeher
als Indikator für gelungene oder missratene Kulturationsprozesse der Menschheit
erkannt.
Manuela Linnemanns Vorhaben, "einen repräsentativen Querschnitt durch
die abendländischen Kontroversen über das Tier vorzustellen",
ist mit dieser Anthologie vollends gelungen. Die Sorgfalt und Treffsicherheit,
mit denen die Texte gesichtet und ausgewählt wurden, bescheinigen der Herausgeberin
hervorragende philosophische und literarische Kenntnisse sowie viel Gespür
für historisch relevante Details. Vor allem aber schärft Manuela Linnemanns
Arbeit unser kritisches Bewusstsein gegenüber bestehendem Unrecht; sie
liefert den LeserInnen schlagkräftige Argumente für den beschwerlichen
Weg, der zur Beseitigung der blutigen Herrschaft der Menschen über die
Tiere führt.
"Brüder Bestien Automaten. Das Tier
im abendländischen Denken" ist im Harald Fischer Verlag (ISBN 3-89131-401-9)
erscheinen und kostet 23,50 Euro.
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