Waren sie wirklich die antideutschesten der deutschen Linken?
Von Susann Witt-Stahl
Ein sozialpathologisches Phänomen der Spaßgesellschaft,
Exkulpationstherapie für ehemalige Antizionisten? Wer sind die Antideutschen,
wo kommen sie her, was ist ihr Wesen? Sind sie eine globale rechte Jugendbewegung,
ein deutsches Pendant zu den „conservative punks“, die für
„westliche Werte“ und Bush-Kriege trommeln? Sind sie womöglich
nur vernachlässigte und atomisierte Wohlstandsgören, die mit aus der
„Jungle World“ abgekupferten Adorno-Zitaten darauf aufmerksam machen
wollen, dass sie den Vorschein der Antithese des Seinsollenden zum Seienden
der warenproduzierenden Gesellschaft verkörpern?
Spätestens seit dem 11. September ist jedenfalls festzustellen, dass die
Antideutschen einmal mehr die Käsetheke im Wal Mart als ultimative Grenze
erkennen wollen, an der Auschwitz nicht veralltäglicht und zerschwätzt
werden darf. Allein der sukzessive Ausverkauf des größten Menschheitsverbrechens
durch eine haarsträubende Enthistorisierungspraxis – die unter anderem
leugnet, dass die Shoah auch ein Kulminationspunkt der katastrophal verlaufenen
westlichen Zivilisationsgeschichte ist –, und eine erinnerungsverzerrende
Nomenklatur, die Scheußlichkeiten wie „WTC-KZ“ und „Islam-Faschimus“
in die Welt gesetzt hat, machen deutlich: Die Linke in Deutschland hat ein hochnotpeinliches
Problem.
Unter dem Titel „Sie warn die Antideutschesten der deutschen Linken“
lud der Freiburger Soziologe Gerhard Hanloser jüngst 15 linke Autoren ein,
an seiner kritischen Anthologie über die affirmative Wende mitzuwirken,
die beachtliche Teile der Linken in den neunziger Jahren vollzogen haben. Die
Auswahl der Beiträge zeigt, dass der marxistische Publizist – der
nach eigener Aussage aus einer „antideutsch-antifaschistischen Familie
kommt, die Henry Morgenthau und Ilja Ehrenburg gleichermaßen verehrt“
– ein möglichst breites Spektrum kritischer Stimmen aus der Nah-
und Fernperspektiven auf das Phänomen kolossaler „Wirklichkeitsabstinenz“
sammeln wollte: Vom Frühaussteiger des antideutschen Sektenwesens bis zum
kopfschüttelnden Beobachter aus dem Ausland sind alle vertreten, die zur
Aufklärung beitragen können, wie es dazu kommen konnte, dass die Vollzugsgehilfen
des „kapitalistischen Weltgeistes“ (Robert Kurz) radikale Herrschaftskritik
durch antikritische Scheinradikalität ersetzen konnten, ohne auf nennenswerten
Widerstand aus der Linken zu stoßen.
Der Journalist Bernhard Schmid zeichnet in seiner „Deutschlandreise auf
die ‚Bahamas’“ den Weg der Antideutschen von einem Produkt
einer Kritik des linken Nationalismus zu einer autoritären Glaubensgemeinschaft
nach. Atemberaubend dabei ist zu beobachten, wie emphatisch die Kreuzritter
für undialektische Aufklärung, Bush und Abendland gegen den Schatten
der eigenen Vergangenheit kämpfen, denn nicht wenige Antideutsche älteren
Semesters sind vor einigen Jahren – folgt man ihrer Definition –
noch glühende Antizionisten oder gar Antisemiten gewesen.
Die Politologen Markus Mohr und Sebastian Haunss stellen Überlegungen an,
warum die antideutsche Ideologie das autonome Spektrum, das sich noch vor kurzem
unter der Parole „Kein Blut für Öl!“ gegen US-Imperialismus
und für die Befreiung Palästinas stark gemacht hat, als fahnenschwenkendes
Fußvolk für die erklärten „Freunde des amerikanischen
Krieges“ rekrutieren konnte. Durch einen kurzen Abriss autonomer Bewegungsgeschichte
vermitteln die Autoren plausibel, dass der Hang zur Polarisierung und Vereinfachung
vielschichtiger politischer Prozesse sowie die Neigung zum autoritären
Charakter, Mitläufertum und zur Denunziation genuin im autonomen Projekt
vorhanden war. Ein Milieu, das sich an volksmythologischen Vorstellungen und
einem naiv romantisiertem Drittweltismus – wie man ihn sonst nur aus der
Tchibo-Werbung kennt – berauschen kann, erweist sich als omnidirektional
anfällig für simple monokausale Welterklärungen. Wer sich zudem
eine Diskurspraxis zu eigen gemacht hat, in der die Kontrahenten aus dem linken
Lager willkürlich als „Rassisten“ beschimpft und vor die von
den Nazis „angerichteten Leichenberge geschoben“ werden, wie Mohr
und Haunss schreiben, lässt sich auch zu einem inflationären Gebrauch
des Antisemitismusbegriffs hinreißen.
Freilich werden auch in nahezu allen Beiträgen die von Antideutschen auffallend
hysterisch vor allem aber performativ eingeforderten Liebeserklärungen
an Israel kritisch beleuchtet: Mit dem Hinweis, dass Israel ein „ideologisch
Zusammengeschweißtes“ sei, stellt Moshe Zuckermann die rhetorische
Frage, wem denn nun eigentlich die ebenso pathosgetränkte wie abstrakte
Formel „Solidarität mit Israel!“ gilt: Dem säkularen oder
dem religiösen Israel? Dem Israel der aschkenasischen oder der orientalischen
Juden, der russischen Einwanderer, der arabisch-palästinensischen Minderheit,
der rechten Siedler- oder der linken Kibbuz-Bewegung? Um die Komplexität
der historisch gewachsenen gesellschaftlichen Gegensätze und vielfältigen
ethnischen Spannungen deutlich zu machen, liefert der Leiter des Instituts für
Deutsche Gesichte in Tel Aviv eine Analyse der politischen Konfliktwirklichkeit
in Israel. Schließlich kommt Zuckermann nicht nur zu dem Schluss, dass
die Bilder seines Landes – die antideutsche Avantgarde des ISF beispielsweise
will Israel „als bewaffneten Versuch der Juden, den Kommunismus lebend
zu erreichen“ begreifen –, die von deutschen „Solidarisierungsfetischisten“
perpetuiert werden, ideologisch verstümmelt oder rein fiktional sind. Er
verwahrt sich auch dagegen, Israel als „pure Projektionsfläche eigener
Befindlichkeiten“ und deutscher Vergangenheitsbewältigung zu benutzen.
Die Forderung der „bedingungslosen Solidarität“ mit Israel
„ist eine Farce“, so Zuckermann, „die die reale Tragödie
in eine Narrenposse verwandelt“.
Man könnte fast annehmen, in Deutschland gebe es ein Darstellungsverbot
für Zerfallsprodukte linken Bewusstseins – so konsequent verweigert
der israelische Gelehrte den Antideutschen in seinem Essay die Ehre, beim Namen
genannt zu werden. Als sei ihr mitten im Gesicht ein fetter Eiterpickel gewachsen,
den sie partout nicht wahrnehmen und ausdrücken will, macht Zuckermann
die deutsche Linke jedoch diskret auf das mit der antideutschen Ideologie gewucherte
Problem der falschen Juden=Israel=Zionismus-Identifizierung und -Pauschalisierung
aufmerksam: Begriffe, die „alles Heterogene über einen (simplifizierenden)
Kamm scheren“. Am Ende verdichtet der jüdische Marxist seine Kritik
an den „solidarisierungswütigen Israel-Freunden“ zu einer unmissverständlichen
Absage: „Ideologisch durchwirkte Abstraktionen“ seien kontraproduktiv,
wenn es um die Lösung schwerwiegender Probleme ginge, „besonders
unangenehm“, wenn sie Juden anbelangten, „vollends unappetitlich“
aber, wenn die Abstraktion der Juden wieder aus Deutschland käme.
Peinlich berührt von der Verwahrlosung des ideologiekritischen Denkens
der deutschen Linken zeigt sich auch der türkische Politik- und Geschichtswissenschaftler
Gazi Caglar. Er beschäftigt sich mit der antideutschen Praxis, im Namen
von Marx emanzipatorische Begriffe zu entwürdigen, um sie schließlich
für das von US-amerikanischen Neokonservativen reanimierte machiavellistische
Prinzip des Krieges als „schöpferische Zerstörung“ zu
instrumentalisieren. Wer die „Barbarei der Moderne“ als einzige
Lösung gegen die „moderne Barbarei“ des Djihaddismus predige,
mahnt Caglar, „beraubt die Linke jeglichen humanen Gehalts“.
Die Lektüre von 290 Seiten Ideologiegeschichte der deutschen Linken erhellt,
dass die Mentaldisposition der Antideutschen hervorragend mit dem Zeitgeist
der Berliner Republik harmoniert: Das narzisstisch-larmoyante Suhlen in deutschen
Befindlichkeiten sowie die pathischen Projektionen des „deutschen Wesens“
auf das arabisch-palästinensische Kollektiv zeugen von einem tiefen Bedürfnis
nach Entsorgung der Schande. Nicht zuletzt das feige Davonstehlen der Antideutschen
aus der Verantwortung gegenüber der eigenen deutschen Täter-Geschichte,
das sich in ihrer distanzlosen und anmaßenden Identifikation mit den Juden
in Israel offenbart, wirft die nicht nur Frage auf, warum Hanloser seinem Buch
nicht mit dem eindeutigeren Titel „Sie warn die allerdeutschesten der
deutschen Linken“ versehen hat. Führt man sich die unverschämte
Aneignung der Definitionsmacht über die jüdische Identität (die
darin gipfelt, dass zionismuskritische israelische Juden als „Möchte-Gern-Juden“
bezeichnet wurden) vor Augen, der Antideutsche seit Jahren beinahe ungestört
nachgehen können, fragt man sich auch, warum eigentlich nur so wenige Bernhard
Schmids Rat beherzigen: Wer am Gedanken materialistischer Gesellschaftskritik
und -veränderung festhalten will, solle schleunigst die Tür zumachen,
„durch die diese Leute ihren verschlungenen Weg nach rechts angetreten
haben“.
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