Ursula Wolf:
Grausamkeit stößt ab, weil sie hässlich ist

Von Susann Witt-Stahl

Ursula Wolf gehört zu dem kleinen Kreis von zeitgenössischen EthikerInnen, die ernsthafte Versuche unternehmen, der traurigen Marginalexistenz der Tiere in den Geisteswissenschaften ein Ende zu setzen und ihnen durch uneingeschränkte Anerkennung ihrer Leidensfähigkeit einen würdigen Platz in der Moralphilosophie einzuräumen. Die Philosophin wurde 1951 in Karlsruhe geboren, studierte in Heidelberg, Oxford und Konstanz, habilitierte 1983 an der FU Berlin und ist zur Zeit als Dozentin an der Universität Mannheim tätig. Mit Veröffentlichungen wie "Haben wir moralische Verpflichtungen gegen Tiere?" oder "Tierversuche im Studium - ethische Aspekte" leistet Ursula Wolf einen wichtigen Beitrag zur aktuellen Diskussion über die praktischen Probleme der Mensch-Tier-Beziehung.
In ihrem Buch "Das Tier in der Moral" von 1990 hat die Tugendhat-Schülerin eine metaphysikfreie, pathozentrische Moraltheorie "generalisierten Mitleids" entwickelt, die aus der Kritik der wesentlichen moralphilosophischen Positionen hervorgeht und Elemente von Schopenhauer, Kant, der Tugendmoral und des Utilitarismus enthält.
Bezug nehmend auf Schopenhauer betrachtet Wolf das Mitleid als geeignete motivationale Grundlage moralischen Handelns, da es die individuelle Leidensfähigkeit in den Mittelpunkt der Moral stellt. Zudem ist es eine auf einen natürlichen Affekt basierende Einstellung und bereits Bestandteil der vorhandenen Alltagsmoral. "Das Mitleid ist die moralische Triebfeder, aus der die beiden Kardinaltugenden der Gerechtigkeit und der Menschenliebe hervorgehen."  Mitleid ist allerdings eine Lebenseinstellung neben vielen anderen, die nicht automatisch Tiere hinreichend berücksichtigt, Launen unterworfen ist und auf die sich keine universalistische Moral aufbauen lässt. Wolf sieht aber eine Stärke in der Frage, welches Gewicht das Mitleid unter den verschiedenen Einstellungen hat, da Moraltheorien, die absolute Werte zugrunde legen, diese überspielen. Kant konnte mit seiner kategorischen Ethik, in der vernunftfähige Individuen einen absoluten Wert besitzen, für die Alltagsmoral verständlich machen, warum Individuen die Grenze des Handelns anderer darstellen. Für die Philosophin stellt sich allerdings die Frage, warum man Wesen gerade deswegen moralisch behandeln soll, weil sie vernünftig sind. Sie kritisiert vor allem, dass Kants anthropozentrische Ethik das Verhältnis Mensch Tier als Dichotomie von Person und Sache affirmiert und damit das tradierte europäische Rechtsdenken weiterführt. Der absolute Wertcharakter, den Kant der Vernunft zuschreibt, erweist sich letztlich als metaphysische Annahme, die man nicht zwingend teilen muss.
Ursula Wolf sucht nach einer Konzeption, die Tiere direkt berücksichtigt, tauglich ist für eine moderne wertepluralistische Gesellschaft, keine Letztbegründung beansprucht sowie die schwer in die Alltagsmoral integrierbaren und unerwünschten Merkwürdigkeiten des Utilitarismus vermeidet. Der Utiliarismus bezieht zwar Tiere direkt in seine Moral ein, stellt Speziesgrenzen gut begründet in Frage, was die Position der Tiere in der Moral stärkt, aber er hat die Schwäche, unter einigen Umständen das individuelle Wohl zugunsten des Gesamtwohls zu opfern. Daher knüpft Wolf an die Traditionslinie liberaler Moralen an: In der Einstellung der Ablehnung von Grausamkeit des Moralphilosophen Michel de Montaigne (1533-1592) sieht sie einen geeigneten Ansatz. Grausamkeit ist an erster Stelle zu vermeiden, da sie Leiden erzeugt. "Sie ist einfachhin schlecht, insofern das keiner Erklärung oder Begründung bedarf. Grausamkeit stößt einfachhin und als solche ab, weil sie hässlich ist." Diese Vorstellung lehnt an eudämonistische Moralauffassungen an, also an philosophische Lehren, die im Glück des einzelnen oder der Gemeinschaft die Sinnerfüllung des Daseins sehen. Diese bilden den Kern der Tugendmoral und betrachten Moral im Kontext eines Selbstverständnisses. Da Leidensfähigkeit nicht nur Menschen, sondern auch den meisten Tieren zukommt, sollen auch Tiere Objekte der Moral sein. Daraus ergibt sich eine radikalisierte liberale Moralkonzeption "generalisierten Mitleids": "Jetzt sind einfach alle diejenigen Wesen moralische Objekte, die schutzbedürftig sind bzw. auf die sich überhaupt Rücksicht nehmen lässt, und solche Wesen sind sie dadurch, dass sie verletzbar sind. Entsprechend wäre das, worauf Rücksicht zu nehmen ist, die verschiedenen Formen der Verletzbarkeit oder des Leidens." Dieses Konzept ist noch kein konkretes Prinzip, sondern zunächst eine moralische Gundvorstellung analog der Grundvorstellung der Achtung der Würde der Person in der kantischen Ethik. Wolf betont, dass es sich hierbei nicht etwa um eine konkrete Norm, sondern um den sinnvollsten Standpunkt der Rücksicht handelt, der sich denken lässt, wenn man auf absolute Wertsetzungen verzichten will. Was die Berücksichtigung von Leidensfähigkeit betrifft, will Wolf den Leidensbegriff nicht zu eng fassen. Elementare Leiden sind vorrangig zu behandeln. Nicht alle Lebewesen besitzen die gleiche Leidensfähigkeit, daher sind ihnen unterschiedliche Rechte in Hinblick auf Leidensvermeidung zuzuschreiben.
Welche Rechte sollen Tiere haben, welche Pflichten haben Menschen ihnen gegenüber? Aus den Voraussetzungen und Bedingungen im Sinne unverzichtbarer Bestandteile, d.h. passives Wohlbefinden (z.B. Lust) und aktive Betätigung (z.B. Pflege sozialer Bindungen), leitet Wolf für Tiere die Rechte ab, die auch von Personen - zwar mit anderer Gewichtung der Bedürfnisse - für das individuelle Erleben von Glück beansprucht werden. Moral hat gerade die Funktion, die Bedingungen zu schaffen, die für die selbstständige Suche des Individuums nach Glück notwendig sind. Fügt man Tieren Schmerzen zu, sind diese Bedingungen für ein erfülltes Leben nicht gegeben. Daher haben Menschen u.a. die Pflicht, Tiere nicht zu quälen. Auf der Grundlage des Tötungsverbots von Personen spricht Wolf sich auch weitgehend für ein Tötungsverbot von Tieren aus: Man könnte zwar die Ansicht vertreten, das schnelle, überraschende Töten von Tieren sei moralisch unbedenklich, weil es den Tieren keine Leiden verursacht. Nur gibt es kein Töten ohne Leiden, da dem Töten immer ein Leidensprozess vorausgeht (z.B. Gefangennahme, Transport etc.). Sollte das überraschende Töten tatsächlich kein Leiden erzeugen, gäbe es in der metaphysikfreien Moral generalisierten Mitleids keinen Anlass, es nicht auch bei Personen zu gestatten. Personen und höher entwickelte Tiere handeln zweckorientiert, zukunftsbezogen und verfügen über ein reflektiertes bzw. faktisches Todesbewusstsein. Sie wollen weiterleben, daher ist es unzulässig, sie zu töten. Ein Weiterlebenwollen ist möglicherweise auch in "niederen" Tieren angelegt, "im Vollziehen der verschiedenen Aktivitäten, in denen ein Wesen sich realisiert. Mit dieser Überlegung könnte man das Weitermachenwollen jeder Handlung als Indiz für das Weiterlebenwollen auslegen."
Ursula Wolf vertritt eine Tierrechtsposition, die sich weitgehend an elementaren Menschenrechten orientiert, wenn es darum geht, anderen bestimmte Dinge nicht anzutun. Sie stellt Unterschiede zwischen Mensch und Tier nicht in Frage, zieht aber andere Konsequenzen als Vertreter des traditionellen Tierschutzgedankens, denn "nicht jede empirische Ungleichheit begründet automatisch eine Ungleichheit im moralischen Status". Wolf betont sogar, dass die Fähigkeit zur Moral die Sonderstellung des Menschen auf der Welt ausmacht. Die Misere liegt im durch Gedankenlosigkeit oder Egoismus motiviertem Missbrauch dieser Fähigkeit. Dieser offenbart sich nur allzu zu offensichtlich in den alltäglich begangenen Grausamkeiten an den Tieren, geleitet von dem absurden Prinzip: "Wir sind absolut besser als die Tiere, weil wir die Fähigkeit haben, auf ihre Interessen Rücksicht zu nehmen; also nehmen wir sie nicht."
 

Literatur:

Ursula Wolf - Das Tier in der Moral. Frankfurt a.M.1990.