Leonard Nelson:
Gerechtigkeit für die Allerwehrlosesten!


Von Susann Witt-Stahl

Die Erkenntnis, daß die Welt sich nie nach dem richten wird, was in Büchern geschrieben steht, sondern nach der "Macht der für oder gegen eine Sache sich einsetzenden Interessen", führte den Göttinger Philosophen und Sozialisten Leonard Nelson (1882-1927) in den organisierten Widerstand gegen kapitalistische Ausbeutung und Unterdrückung. Als Gründer des Internationalen Sozialistischen Kampfbundes, der noch bis 1938 u.a. durch Sabotageaktionen gegen die nationalsozialistischen Machthaber agierte, appellierte Nelson an seine GenossInnen, über Speziesgrenzen hinweg als wahrhaftige SozialistInnen zu handeln und vegetarisch zu leben, denn die Tiere seien die "Allerwehrlosesten [...], die sich nie durch Koalition zusammentun können, um allmählich ihre Rechte in einem Klassenkampf zu erobern. Ein Arbeiter, der nicht nur ein 'verhinderter Kapitalist' sein will, und dem es also ernst ist mit dem Kampf gegen jede Ausbeutung, der beugt sich nicht der verächtlichen Gewohnheit, harmlose Tiere auszubeuten, der beteiligt sich nicht an dem täglichen millionenfachen Mord, der an Grausamkeit, Roheit und Feigheit alle Schrecknisse des Weltkrieges in den Schatten stellt [...]. Entweder man will gegen die Ausbeutung kämpfen, oder man läßt es bleiben. Aber wer als Sozialist über diese Forderung lacht, der weiß nicht, was er tut. Der beweist, daß er nie im Ernst bedacht hat, was das Wort Sozialismus bedeutet."
Mit einem streng rationalen Ethikkonzept schuf Nelson ein solides Fundament für seine politische Forderung, den Tieren das Recht auf Berücksichtigung ihrer Interessen nicht länger zu verweigern. Nelson legte großen Wert auf die Feststellung, daß seine Forderung nicht "Ausfluß bloßer Sentimentalität", sondern eine elementare Frage der Gerechtigkeit sei und somit den Menschen normative Pflichten gegenüber Tieren auferlege.
Nelsons Ethik basiert auf einer intensiven Auseinandersetzung mit der kritischen Philosophie Immanuel Kants: Dieser setzt zwar Tiere nicht mit Dingen gleich, bestreitet nicht ihre Leidensfähigkeit, räumt ihnen aber einen schwächeren moralischen Status als Menschen ein. Mit seiner metaphysischen Annahme, daß nicht empirische Interessen, sondern Vernunftsfähigkeit den Wert eines Subjekts ausmachen, betrachtet Kant die Menschen als Herren über die Welt. Da Menschen als vernünftige Wesen autonom, nach selbstgegebenen Gesetzen leben und sich ihr Leben als Zweck denken können, haben sie als Subjekt von Moralität besondere Rechte aber auch Pflichten. Gegenüber Tieren bestünden für Menschen nach Kant allerdings nur indirekte Pflichten. So spricht der Königsberger Philosoph sich für das Verbot der Tierquälerei nur aus, weil diese sich negativ auf das Mitgefühl für Menschen auswirke. Nelson befindet Kants Postulat der indirekten Pflichten gegenüber Tieren als unplausibel und unbefriedigend. Er teilt zwar Kants Auffassung, daß Tierquälerei verboten werden soll, weil sie das Mitgefühl abstumpft, aber er kritisiert Kants Begründung, die einzige relevante Folge der Tierquälerei sei die schwindende Bereitschaft, Pflichten gegen Menschen nachzukommen: Würden diese an und für sich zufälligen Folgen nicht auftreten, würde ein Verbot der Tierquälerei nicht bestehen. Nelson geht von unmittelbaren Pflichten der Menschen gegenüber Tieren aus und sieht einen Fehlschluß in Kants Bestimmung des Objektbereichs von Pflichten: Pflichtsubjekt und Rechtssubjekt müssen unterschieden werden, "denn wir können nicht a priori die Möglichkeit ausschließen, daß es Rechtssubjekte gibt, die nicht Pflichtsubjekte sind. Subjekte von Rechten sind gemäß dem Inhalt des Sittengesetzes alle Wesen, die Interessen haben. Subjekte von Pflichten sind dagegen alle die, die darüber hinaus der Einsicht in die Anforderung der Pflicht fähig sind. Diese Einsicht ist nur für vernünftige Wesen möglich." Verweigere man unvernünftigen Wesen den Status des Rechtssubjekts mit der Begründung, sie seinen unfähig, Pflichten wahrzunehmen, so wären nicht nur Tiere, sondern auch Kinder und geistig behinderte Menschen rechtlos, obwohl sie Träger von Interessen sind.
Die Interessen der Tiere nehmen in Nelsons Ethik eine zentrale Stellung ein. "Wer auch nur die Möglichkeit zugesteht, durch den Anblick von Tierquälerei selbst gequält zu werden, der gesteht damit zu, daß auch die Tiere den Schmerz empfinden." Somit identifiziert das Eingeständnis der Möglichkeit von Tierquälerei Tiere als Träger von Interessen.  Nach Nelson sind Interessen psychische Phänomene mit dem Merkmal der Wertung, die eine Polarität des Verhaltens anzeigen wie Neigung und Abneigung, Freude und Leid etc. Sie treten auch ohne Denken in das Bewußtsein eines Individuums; ihre Wertung muß nicht notwendig urteilend sein, ist also nicht zweckgebunden. Alle Wesen, die Träger von Interessen sind, betrachtet Nelson als Personen. Alle Personen haben den Anspruch auf die Achtung ihrer Interessen, d.h. andere müssen  ihren Willen einschränken, um die Rechte dieser Personen zu wahren. Bei Interessenskollisionen muß im Einzelfall nach gerechter Abwägung  entschieden werden, auf welcher Seite das vorrangige Interesse liegt.
Außerhalb von Interessenskonflikten spricht Nelson sich gegen das Töten von Tieren aus. Er lehnt das Schlachten von Tieren aus dem Beweggrund der Vorliebe für den Fleischgenuß ab. "Wer [...] das Leben des Tieres so gering achtet, daß er z.B. die tierische Nahrung der pflanzlichen vorzieht, nur weil er sie für bekömmlicher hält, der sollte sich fragen, warum er nicht auch Menschenfleisch ißt." Nach Nelson besteht eine Gemeinsamkeit zwischen Mensch und Tier in dem sinnlichen Interesse am Leben. Der Mensch hat darüber hinaus noch höhere Interessen: "Für den Menschen haben die sinnlichen Interessen, sofern er jedenfalls zum Bewußtsein um sein wahres Interesse erwacht ist, im Ganzen seines Lebens eine geringere Bedeutung als für das Tier. Je stärker sich in einem Menschen die vernünftigen Interessen melden, desto mehr tritt sein Streben nach bloßem Sinnengenuß zurück." Ein zusätzliches Argument für ein Tötungsverbot angesichts der Frage, ob ein schmerzloses Töten von Tieren erlaubt sei, stellt für Nelson die Antwort dar, die Menschen geben würden, wenn sie sich in die Lage der Tiere versetzen müßten. Diese Anwort ist schlicht und einfach: "Wir würden nicht einwilligen, weil unser Interesse am Leben durch die Tötung verletzt wird, mag die Tötung so schmerzlos oder so grausam sein, wie sie will."
Nelson betrachtet die Achtung vor den Rechten der Tiere als den "untrüglichsten Maßstab für die Rechtlichkeit des Geistes einer Gesellschaft".

Literatur

Leonard Nelson - Gesammelte Schriften in neun Bänden, Bd.V. System der philosophischen Ethik und Pädagogik. 3. Aufl., Hamburg 1970.
Leonard Nelson - Gesammelte Schriften in neun Bänden, Bd.VI. System der philosophischen Rechtslehre und Politik. 2. Aufl., Hamburg 1976.
Hans-Peter Breßler -  Ethische Probleme der Mensch-Tier-Beziehung. Eine Untersuchung philosophischer Positionen des 20. Jahrhunderts zum Tierschutz. Diss. Frankfurt a.M. 1997.
Wilhelm Brockhaus (Hg )- Das Recht der Tiere in der Zivilisation. Einführung in Naturwissenschaft, Philosophie und Einzelfragen des Vegetarismus. München 1975