Die Frankfurter Schule: Solidarität
mit den quälbaren Körpern
Von Susann Witt-Stahl
Nicht das Leiden der Tiere, sondern das der Menschen und ihr
"beschädigtes Leben" in der inhumanen kapitalistischen Industriegesellschaft
stand im Mittelpunkt der philosophischen Überlegungen der Frankfurter Schule.
Dennoch: Die Greultaten an den Tieren, begangen von einer "falschen Gesellschaft",
die für ihre funktionale Wissenschaft "Opfertiere massakriert..., die verkannt
als bloßes Exemplar durch die Passion des Laboratoriums" gehen, sind ein
immer wiederkehrendes Motiv in den Werken der Philosophen der Frankfurter Schule.
Aus diesem Kreis von Philosophen, Soziologen und Politologen ging in den 20er
Jahren die Kritische Theorie hervor. Ihre Protagonisten Theodor W. Adorno (1903-1969)
und Max Horkheimer (1895-1973) begründeten keine Denkschule nach traditionellem
Muster mit festgesetzter programmatischer Ausrichtung. Sie hinterließen
keine ausformulierte Moralphilosophie, keine affirmative Ethik, kein zeitloses
Konzept "richtigen Handelns", sondern wagten den Versuch einer Gegenwartsdiagnose
und -kritik auf der Basis einer Theorie über herrschende Machtinteressen
und manipulierte Bewußtseinsinhalte in der verwalteten Welt. Sie betrieben
die Decodierung der Zeichen einer mißlungenen Gesellschaft, die den Blickkontakt
mit den Opfern ihrers selbst produzierten Grauens scheut, sich ihren eigenen
Schrecknissen nicht stellen will. "Anstatt Flüsse zu kanalisieren, lenkt
sie den Menschenstrom in das Bett ihrer Schützengräben, anstatt Saaten
aus den Aeroplanen zu streuen, streut sie Brandbomben über die Städte
hin. Ihre Selbstentfremdung hat jenen Grad erreicht, der sie ihre eigene Vernichtung
als ästhetischen Genuß ersten Ranges erleben läßt", schrieb
Walter Benjamin 1936. Die schrecklichsten Opfer bringen immer die Tiere. Adorno
und Horkheimer in der Dialektik der Aufklärung: "Sie bilden in Afrika,
der letzten Erde, die ihre armen Herden vor der Zivilisation vergeblich schützen
wollte, ein Verkehrshindernis für die Landung der Bomber im neuesten Krieg.
Sie werden abgeschafft."
Die "Bedingung aller Wahrheit" war für Adorno "das Leiden beredt werden
zu lassen". Im Leiden sind Menschen und Tiere vereint und getrennt.
Horkheimer und Adorno betrachteten Mensch und Tier als Einheit, denn in "der
Tierseele sind die einzelnen Gefühle und Bedürftigkeiten des Menschen,
ja die Elemente des Geistes angelegt." Sie weigerten sich auch, die Erniedrigung
des Menschen losgelöst von der der Tiere zu behandeln. Die "Möglichkeit
des Pogroms", so Adorno in seinem Aphorismus Menschen sehen dich an, wird in
dem Augenblick entschieden, "in dem das Auge eines tödlich verwundeten
Tiers den Menschen trifft. Der Trotz, mit dem er diesen Blick von sich schiebt
- 'es ist ja bloß ein Tier' - , wiederholt sich in den Grausamkeiten an
Menschen, in denen die Täter das 'nur ein Tier' immer wieder sich bestätigen
müssen, weil sie es schon am Tier nie ganz glauben konnten."
Fügt man die Schilderungen der grausamen Instrumentalisierung von Menschen
und Tieren zusammen mit der Analyse der wirkmächtigen Prinzipien, die Natur
"disqualifiziert" haben und "zum chaotischen Stoff bloßer Einteilung"
verkommen ließen, mit der Kritik am blinden technologischen Optimismus,
an der "verdinglichenden Wissenschaft" an der Gesellschaft von Unfreien, die
irrational hinnimmt, "was der Fall ist", so kristallisiert sich eine Moral der
Betroffenheit durch das Leiden anderer heraus. Dabei bestimmt Adorno das moralische
Verhalten der Betroffenheit negativ als Mindestbedingung (Minima Moralia): Es
soll alles unterlassen werden, was verhinderbares Unrecht, Leiden erzeugen könnte.
Basis eines "richtigen Handelns" ist die Einsicht des Scheiterns der bisherigen
soziokulturellen Evolution. Diese ist durch eine verfehlte Individuation der
Menschen ausschließlich auf der Grundlage der Selbsterhaltung und somit
auf die Nichtachtung des Leidens der anderen gekennzeichnet. Das Leiden ist
das untrügliche Zeichen des Tributs, der dem ungezügelten Trieb zur
Selbsterhaltung zivilisatorisch entrichtet werden muß. Nur eine Moral,
die diese Erkenntnis konsequent verinnerlicht, kann die versöhnende Kraft
der "Solidarität mit den quälbaren Körpern", den naturhaften
allen Menschen innewohnenden mimetischen Impuls freisetzen. Damit meint Adorno
das einfühlsame Nachempfinden, das tiefe Mitgefühl, das noch die Kinder
beim Anblick des stummen Leidens von Tieren zum Ausdruck bringen und im Verlauf
ihrer Individuierung durch internalisierte Sozialzwänge verdrängt,
vergessen wird.
Stattdessen wird Selbstbehauptung in sozialdarwinistischen Theorien zur Herrenmenschenideologie
erhoben. Diese erlegt mit ihrem propagierten Prinzip des "Überlebens der
Tauglichsten" der Gesellschaft moralische Imperative auf. Horkheimer vertritt
in Die Revolte der Natur die Auffassung, daß Lehren, die die Natur oder
den Primitivismus auf Kosten des Geistes erhöhen, keine Versöhnung
mit der Natur begünstigen, sondern im Gegenteil nur mechanische Kälte
und Blindheit gegenüber der Natur ausdrücken. "Immer wenn der Mensch
vorsätzlich Natur zu seinem Prinzip macht, regrediert er auf primitive
Triebe." Die Demut des Menschen gegenüber der Natur versinkt im Abgrund
brutaler Gewalt. Die Menschen "unterjochen das Universum, wenn sie sich nicht
gerade selbst zerreißen", die Rücksicht auf Tiere gilt "nicht bloß
als sentimental, sondern als Verrat am Fortschritt". Dieser Fortschritt ist
kein wahrer. Er offenbart sich nicht als Fortschritt des Geistes, sondern beschränkt
sich auf den Gebrauch instrumenteller Vernunft. So werden Tiere mit Verweis
auf das "natürliche Recht des Stärkeren" in den Laboratorien verstümmelt
und dem dumpfen Fortschrittsglauben als Blutopfer dargebracht. Auf dem "Nährboden
der durch Reflexion ungebrochenen Selbstbehauptung" gedeiht auch die "faschistische
Lüge", daß der Jude kein Mensch sei. Die Befreiung vom Primat der
Selbstbehauptung und ihrer Herrschaft über den Gedanken, in der Abschaffung
der Gewalt, formiert sich die "Gegenbewegung zur falschen Projektion, und kein
Jude, der diese je in sich zu beschwichtigen wüßte, wäre noch
dem Unheil ähnlich, das über ihn, wie über alle Verfolgten, Tiere
und Menschen, sinnlos hereinbricht" so Horkheimer und Adorno.
Getrennt sind die Leiden der Tiere von denen der Menschen in der Unmöglichkeit,
diese im vollem Umfang zu erdenken, beschreiben und kompensieren. Das Tier entbehrt
den seelischen Halt, den die organisierte Vernunft, beschwichtigende Erkenntnis
und die religiöse oder philosophische Idee verleiht. Aber für "den
Entzug des Trostes tauscht das Tier nicht Milderung der Angst ein, für
das fehlende Bewußtsein von Glück nicht die Abwesenheit von Trauer
und Schmerz".
In seiner Wolkenkratzermetapher stellte Horkheimer die moderne Gesellschaft
als ein Gebäude dar, dessen Keller ein Schlachthof und dessen Dach eine
Kathedrale ist. Die Monopolkapitalisten genießen "aus den Fenstern der
oberen Stockwerke eine schöne Aussicht auf den gestirnten Himmel" Darunter
wohnen komfortabel die politischen Handlanger, die Militärs, die Bildungseliten.
Je tiefer der Blick sich aber senkt hinab zum Fundament, desto deutlicher wird,
daß der Wolkenkratzer tatsächlich ein Haus der Folter und des Massenelends
ist, für dessen obere Stockwerke "millionenweise die Kulis der Erde krepieren".
Ganz unten steht die "Tierhölle", in der den Individuen nichts anderes
bleibt als "der Schweiß, das Blut, die Verzweiflung".
Literatur:
Theodor W. Adorno - Minima Moralia. Reflexionen aus dem beschädigten Leben.
23. Aufl., Frankfurt a.M. 1997.
Max Horkheimer/Theodor W. Adorno - Dialektik der Aufklärung. Philosophische
Fragmente. 2.Aufl., Frankfurt a.M. 1992.
Max Horkheimer - Zur Kritik der instrumentellen Vernunft. 2. Aufl., Frankfurt
a.M. 1990.
Max Horkheimer - Notizen 1950 bis 1969 und Dämmerungen. Notizen aus Deutschland.
Frankfurt a.M. 1974.
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